Widerspruch 62 - Beiträge zu sozialistischer Politik

Widerspruch 62 - Beiträge zu sozialistischer Politik

von: Michèle Amacker, Alex Demirovic, Céline Ehrwein Nihan, Lilian Fankhauser, Frigga Haug, Stefan Kerber

Rotpunktverlag, 2013

ISBN: 9783858695505

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 1147 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Widerspruch 62 - Beiträge zu sozialistischer Politik



Shahra Razavi

Care, Krise und Krisenpolitik in Nord und Süd


«Zumeist», so Bob Jessop,1 «wurde die Krise vor allem als eine Krise der Kapitalakkumulation angesehen, die Auswirkungen auf die gesellschaftliche Reproduktion traten dabei in den Hintergrund. Dieser Blick auf die Krise erfolgte eher vom globalen Norden als vom Süden aus und wurde von der Fragestellung geleitet, wie Staaten am besten die Dominanz der Marktkräfte wiederherstellen können – anstatt Wege zu suchen, wie man diese begrenzen kann.» Was könnte eine feministische Politische Ökonomie zu den bereits existierenden Analysen der Krise beitragen? Wie kann der Bereich der Care-Arbeit mithilfe theoretischer Konzepte und auf empirischer Basis so analysiert werden, dass die feministische Theorie und Praxis dadurch bereichert werden?

Drei Themenbereiche sollen hier* im Mittelpunkt stehen. Erstens die Austeritätspolitik und ihre gender- und klassenspezifischen Auswirkungen: Um wesentliche Punkte anschaulich zu machen, beziehe ich mich dabei insbesondere auf die Arbeit der britischen Women’s Budget Group. Zweitens die bedenklichen politische Implikationen von Massnahmen, die nach der Krise zu deren Bewältigung erfolgen. Insbesondere im globalen Norden und Osten haben staatliche Repression und soziale Intoleranz zugenommen. Dies hat Auswirkungen auf subalterne Gruppen, insbesondere auf Migrantinnen und Migranten sowie ethnische Minderheiten. Drittens aktuelle politische Entwicklungen in den Ländern des globalen Südens, wo bereits über «Post-Neoliberalismus» diskutiert wird; ich erschliesse ihre Bedeutung aus einer Gender- und Care-Perspektive.

1. Akkumulation von Kapital gegen gesellschaftliche Reproduktion: Wer gewinnt? Wer bezahlt?

Die «riesenhafte Aktion zur Rettung der Wallstreet wurde dem amerikanischen Volk als ein Mittel zur Rettung der Mittelschicht und von Arbeitsplätzen verkauft. Aber sie hat keines von beiden bewirkt und es gibt statt dessen eine Rückkehr zu den Bonus-Praktiken der Vor-Krisen-Jahre» (Robert Reich).2 Die Reaktion der Regierung war «rasch und umfassend», als es darum ging, die Banken und kapitalistische Firmen abzusichern, aber «langsam und begrenzt» hinsichtlich sozialer Missstände, der Bedürfnisse der Menschen und der Sicherung der Menschenrechte (Diane Elson).3

Tatsächlich hat das rasche Handeln der Regierung die Finanzmarktkrise zu einer Krise der öffentlichen Haushalte gemacht, da die Wiederherstellung des Bankensektors weitgehend ohne Auflagen erfolgte. Zumindest diesseits des Atlantiks wurde damit Sparmassnahmen der Weg bereitet, unter denen die Bürgerinnen und Bürger von EU-Ländern, insbesondere in den Randregionen, zu leiden haben. Wir wissen, dass die Situation im südlichen Europa, wo die Sparmassnahmen besonders hart waren, schwierig ist. Natürlich gibt es auch innenpolitische Gründe für die Krise wie zum Beispiel inkompetente Regierungen, grassierende Korruption, strukturelle Probleme in der Wirtschaft. Aber wie an vielen andern Orten (Mexico in den frühen Achtzigern, Ostasien in den späten Neunzigern, Argentinien im Jahr 2000 etc.) haben sich diese innenpolitischen Ursachen der Krise mit den Auswirkungen eines globalen nicht nachhaltig wirksamen neoliberalen Wirtschafts- und Finanzsystems vermengt, das von den Finanzmärkten dominiert ist und sich staatlicher Kontrolle weitgehend entzieht.

In Griechenland nehmen Arbeitslosigkeit, Teilzeit- und temporäre Arbeit zu. Wie in verschiedenen andern von der jüngsten Krise betroffenen Ländern ist die Arbeitslosigkeit unter Männern in Griechenland höher als unter Frauen. Teilweise, weil Männer in den Sektoren, die anfänglich am härtesten getroffen wurden (Bauwirtschaft, verarbeitende Industrie), zahlenmässig dominieren, zum Teil aber auch darum, weil Frauen sich weniger als arbeitslos registrieren lassen. Es gab auch eine grosse Zunahme an weiblichen Arbeitskräften in den ersten paar Jahren nach der Krise (2007–2010), insbesondere unter verheirateten Hausfrauen, die vorher nicht erwerbstätig waren.4 In andern Worten, die Umstände der Krise und der Verlust von Arbeitsplätzen der Männer scheinen einige Frauen auf den Arbeitsmarkt gedrängt zu haben («Notverkauf der Arbeitskraft»), mitunter zum ersten Mal. Da jedoch seit 2010 sowohl im öffentlichen wie im privaten Care-Sektor Stellen gestrichen wurden, sind Frauen inzwischen ebenso schwer von Arbeitslosigkeit betroffen wie Männer. Dieser Abbau an öffentlichen und privaten Gesundheits- und Sozialdienstleistungen hat natürlich auch Auswirkungen auf die unbezahlte Care-Ökonomie, indem städtische Krippen geschlossen werden, das Pflegepersonal in Spitälern reduziert wird und die Verarmung von mittelständischen Familien deren Nachfrage nach angestelltem Pflegepersonal in Privathaushalten (oftmals Immigrantinnen) mindert.5

Die geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Budgetkürzungen in Grossbritannien sind im Detail von der britischen Women’s Budget Group untersucht worden (WBG 2010) – einer unabhängigen Organisation von Personen aus akademischen NGOs und Gewerkschaften, welche eine detaillierte Gender-Analyse des staatlichen Budgets der letzten drei Jahre geliefert hat.6 Ihre Analyse ist ernüchternd. Anhand umfangreicher empirischer Belege zeigen sie auf, dass die Auswirkungen der steuerlichen Kürzungen nicht nur starke schichtspezifische, sondern auch geschlechtsspezifische Komponenten haben. Drei Befunde stechen hervor:

– Der Verlust von Arbeitsplätzen und das Stagnieren der Löhne im öffentlichen Sektor betrifft Frauen überproportional; Frauen stellen zwei Drittel (65 Prozent) des Personals öffentlicher Dienste in Grossbritannien, sie werden daher die Hauptlast dieses Abbaus tragen, Hunderttausende Frauen werden ihren Arbeitsplatz verlieren.

– Der Lebensstandard der Frauen wird darüber hinaus durch die Kürzung öffentlicher Dienstleistungen auch die grössten Einbussen erleiden. Frauen sind wegen Schwangerschaft, höherer Lebenserwartung, geringerem Einkommen und Vermögen mehr als Männer auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen. Zudem sind Frauen immer noch diejenigen, die mehr Care-Arbeit leisten und die Verantwortung tragen müssen.

– Kürzungen bei Sozialleistungen werden auch überproportional die Finanzen von Frauen betreffen, weil die Sozialleistungen durchschnittlich 20 Prozent des Einkommens einer Frau ausmachen, verglichen mit nur 10 Prozent des Einkommens eines Mannes. Kinderzulagen, zum Beispiel, werden zu fast 100 Prozent an Frauen ausbezahlt, während 53 Prozent der Wohngeldbezügerinnen alleinstehende Frauen sind. Beide Zulagen wurden stark gekürzt, die Bezugsberechtigung wurde eingeschränkt.

Gibt es Alternativen? Die WBG hebt mit aller Deutlichkeit die Alternativen hervor, die der Regierung in Grossbritannien zur Verfügung stehen – auch wenn diese wohl wenig Begeisterung für solche Massnahmen zeigen dürfte:7

– Zunächst einmal hat das Kürzen von Sozialausgaben einen grösseren negativen Effekt auf die Beschäftigungslage und die Wirtschaftsleistung als die Erhöhung von Steuererträgen.

– Im UK gibt es viel Spielraum zur Erhöhung der direkten Steuern, da der momentane Steuertarif im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (35 Prozent) viel niedriger ist als in einigen anderen europäischen Ländern (Frankreich, nordische Länder).

– Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, Steuern anzuheben (Boni von Bankern, Liegenschaftssteuern für Villen, Finanztransaktionssteuer etc.).

– Die so gewonnenen Erträge könnten in «harte» Infrastruktur (Strassen, Bahnen) investiert werden.

– Sie könnten auch für «weiche» soziale Infrastruktur (Kinderbetreuung, Gesundheitswesen, Sozialdienste) ausgegeben werden, welche die unbezahlte Care-Ökonomie unterstützt.

Diese Optionen bringen nicht nur mehr geschlechts- und schichtspezifische Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit – sie machen in Zeiten, in denen die Wirtschaft stark von Nachfrage abhängig ist, auch wirtschaftlich Sinn. Zum Budget von 2012 äussert sich WBG wie folgt: «Mehr Geld in die Hände von Frauen aus den unteren Einkommensschichten zu geben, etwa durch die Verbesserung von Vergünstigungen, durch Steuerkredite, durch Pensionsgelder und Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, würde die Nachfrage stärker stimulieren als Steuererleichterungen für reiche Männer und die von ihnen kontrollierten Unternehmen.»

2. Sparprogramme, Ungleichheit und ihre bitteren politischen Auswirkungen

Es gibt viele Anzeichen für soziale Unzufriedenheit, abnehmendes Vertrauen in Regierungen und Unruhe als Antwort auf steigende Nahrungsmittelpreise, den Abbau von Arbeitsplätzen und drakonische Sparmassnahmen (hauptsächlich in der Peripherie der Europäischen Union). Ein Unbehagen, das sozialer Unzufriedenheit Vorschub...

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