Die Liebe in groben Zügen

Die Liebe in groben Zügen

von: Bodo Kirchhoff

Frankfurter Verlagsanstalt, 2012

ISBN: 9783627021870

Sprache: Deutsch

670 Seiten, Download: 832 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Liebe in groben Zügen



III

REGEN in ganz Norditalien, tagelang. Über Torri und dem See ein Schütten aus hängenden Wolken, Bühl sah kaum den Kirchturm vom Haus aus. Aber er nutzte weiter den Pool, ein Pensum zwischen welken Blättern vor seiner Arbeit am Esstisch. Nachmittags dann Gänge durch den Olivenhang, alte, nasse Wege zwischen geschichteten Steinen, viele Käfer, viele Vögel, einmal ein großer Lurch. Und abends im Haus sein Achten auf jedes Geräusch, das Knacken im Holz, ein Fliegensummen, den eigenen Atem. Er war allein, wie andere zu zweit sind, allein mit sich, bis Mitte der ersten Woche, tief in der Nacht, er hatte schon geschlafen, als im Wohnraum das Telefon ging.

Vila. Knapp ihr Name, dann Stille in Erwartung einer Antwort. Wie spät ist es bei Ihnen, fragte Bühl; er suchte einen Lichtschalter, auf dem Telefontischchen am Sofa stand eine Lampe, ohne Schalter. Die Lampe beim Telefon, wie geht die an? Er stieß sie fast um, und vom anderen Ende die Anweisung, am Kabel zu ziehen: Der Schalter liegt hinter dem Sofa. Und hier wird es jetzt dunkel. Kommen Sie zurecht? Vilas Stimme klang nah, nur gestört durch ein Donnern. Er zog an dem Kabel, der Schalter war mit Klebeband umwickelt, aber das Licht ging an. Und das Wetter in Florida? Bühl rückte die Tischlampe wieder gerade. Wo sind Sie im Moment?

Nicht dort, wo Sie denken. Ich bin in Montego Bay, Jamaika, in einem alten Hotel, es heißt Casablanca wie der unverwüstliche Film. Können Sie mich verstehen? Hier kracht die Brandung, das Hotel liegt auf einer Klippe. Vor Jahren war ich schon einmal hier, mit meinem Mann und unserer Tochter, für eine Nacht, wir waren die einzigen Gäste. Abends gehörte uns der ganze alte Ballsaal mit Fotografien von Errol Flynn und Duke Ellington, die hatten sich dort amüsiert, und Renz sang When my baby smiles at me und tanzte mit mir, während Katrin in einem fort Tagebuch schrieb. Wollen Sie wissen, warum ich mitten in der Nacht bei Ihnen anrufe?

Ich muss es nicht wissen, sagte Bühl, und Vilas geschulte Stimme drang jetzt durch das Anrollen und Brechen der Wellen. Unsere Tochter ist in Havanna, Katrin und ihr Freund wollen kein Kind, darum rufe ich an. Mit meinem Mann kann ich darüber nicht reden, er ist mit seiner Producerin beschäftigt, oder nicht? Ich rufe auch als beunruhigte Frau an. Und als jemand, der noch nie in Havanna war. Darum bin ich ja hier in Montego, weil man von den USA nicht direkt nach Kuba kommt, aber das wissen Sie bestimmt. Und Katrins Freund ist Kubaner, mit einflussreichem Onkel, wohl der bedeutendste Dichter Kubas, ein alter Genosse von Castro. Ich bin mit unserer Botschaft dort in Kontakt, die können nichts tun, aber haben mir einen Deutschen in Havanna empfohlen. Ich bin auch mit meinem Mann in Kontakt, er würde kommen, wenn ich ihn bitte, nur kann er noch weniger tun. Und wie gesagt: Er ist mit seiner Producerin beschäftigt, auf kleiner Arbeitsreise. Er hat sich vertan, denke ich. Sind Sie noch da?

Bühl ging mit dem Telefon zum Kühlschrank. Ja, warum fragen Sie? Er nahm sich ein Bier, und in der Pause zwischen zwei Wellen ein Lachen von Vila – wie eine seiner Schülerinnen, Elli Weiler, wenn er sie beim Abschreiben erwischt hatte. Warum? Ich will nicht ins Leere reden. Meine Tochter ist in Havanna, um ihr Kind loszuwerden. Sie hat mir auf die Mailbox gesprochen, wie leid es ihr tue, wie leid, und dass ich mir keine Sorgen machen müsse, nur ist ihr Telefon immer ausgeschaltet, da macht man sich Sorgen. Und ist bei Ihnen alles in Ordnung, haben Sie es warm im Haus?

Tagsüber oder nachts? Im Hörer jetzt das Zuschnappen einer Tür, und das Anbranden wurde leiser, als sei Vila von einem Balkon in ihr Zimmer gegangen. Das heißt, Sie frieren nachts? Eine Besorgnis aus der Ferne, und er verneinte jedes Frieren und sagte, alles sei bestens. Und warum interviewen Sie nicht diesen berühmten Dichteronkel für Ihre Sendung? Dann könnten Sie die Havannareise sogar steuerlich absetzen! Bühl ging ins Bad und machte die Lampen über dem Spiegel an, das Telefon am Ohr. Seit Tagen hatte er sich nicht mehr richtig gesehen, seinen schmalen Kopf mit leicht hohlen Schläfen, das fast noch dunkle Haar, das vorn zu den Falten über der Nase fiel. Er zog mit einer Hand sein Hemd aus: im Spiegel eine hagere Gestalt, bis auf die Schultern, wie gepolstert vom Schwimmen, schon mit zwölf im Bodensee weite Strecken. Hören Sie, Kristian – ganz überraschend der Name, mit dem er selbst nicht viel anfangen konnte –, Ihre Idee ist gut, ich müsste nur irgendeine Kamera und ein Mikro am Flughafen kaufen. Wo sind Sie jetzt im Haus?

Wo ich bin? Bühl löschte das Licht im Bad und lief in den Vorratsraum, nach Vilas Liste die Cantina, darin der Brenner für die Heizung und die Waschmaschine. Vor Ihrer Heizung. Sagen Sie mir, wie die angeht? Er klopfte gegen den Kessel, und schon kam eine Erklärung. Unten rechts am Heizofen ist ein roter Knopf, den drücken Sie, dann springt der Brenner an. Aber vorher den Hauptschalter auf Winterbetrieb stellen, der Pfeil muss auf die kleine Schneeflocke zeigen – sehen Sie die Schneeflocke? Sie ließ ihm etwas Zeit, und er stellte den Schalter auf die Schneeflocke und drückte den roten Knopf, hinter einem Bullauge glühte es hellorangen auf. Es funktioniert, rief er, und vom anderen Ende Lob, viele seien schon gescheitert daran. Jetzt nur noch den Wasserdruck regulieren, links neben dem Brenner ist eine Anzeige, der Zeiger muss sich bei eins fünf einpendeln. Unter der Uhr ist ein Flügelschräubchen, das drehen Sie sachte auf, bis sich der Druck erhöht, ja nicht zu weit. Sehen Sie das Schräubchen? Man braucht Gefühl, zwei Finger reichen. Morgen bin ich in Havanna, die Stadt soll chaotisch sein, ich nehme nicht an, dass Sie schon dort waren. Glüht es noch hinter dem Fenster?

Bühl ging in die Knie. Ja, es glüht.

Gut. Und es dauert einen Tag, bis es warm wird. Holen Sie sich von meinem Bett noch eine Decke. Können Sie jetzt schlafen? Ich habe Sie geweckt, nicht wahr? Und hier fängt erst der Abend an. Vielleicht melde ich mich noch einmal.

Wann, fragte Bühl, ein Wort, das sich Luft machte, so, als sei ein Flügelschräubchen in ihm zu weit aufgedreht.

DAS eine, kleine Wort, das etwas besiegelt, so unbemerkt wie der stille Beginn einer Krankheit: Danke hatte Renz in der einen Nacht von Lucca gesagt, ein Wort in völliger Dunkelheit, ihr Hotel im verwirrend runden Kern der alten Stadt, das Zimmer wie eingekeilt von Gemäuern, ein Verlies mit zwei Geretteten. Renz hatte sich nicht vertan, er hatte sich verliebt. Aber erst am anderen Tag, auf der Fahrt Richtung Assisi, als sie am Trasimenischen See haltmachten, im Freien etwas tranken, traf es ihn mit der Schärfe, die er schon vergessen hatte – Verliebtsein, beglückendes Schwert quer durch einen selbst, Wunde und Heilung ein und dasselbe. Ein Sitzen auf Plastikstühlen vor einem Schilffeld, dahinter der flache olivgrüne See, seine Inseln eine Art Fata Morgana in der Nachmittagsonne. Renz hielt Marlies’ Zigaretten, sie spielte mit seiner Sonnenbrille, ein Auf- und Absetzen, und dann probierte sie den Namen, der für Vila nicht existierte: Bernhard, wo bleibt die Arbeitsreise? Ihr Mund ging in die Breite, links und rechts eine Sichel, gerade noch Mädchenwangen, sie nahm sich von den Zigaretten. Fahren wir weiter, sagte Renz. Wolltest du keine Kinder? Er gab ihr Feuer, und sie erwähnte eine Abtreibung, zu der Zeit ihr Wille. Sie sprach noch im Auto davon, eine Geschichte, die nicht besser wurde durch das Erzählen; sie rauchte, und für einen Moment sah es aus, als würde sie weinen unter den japanischen Lidern. Auch nach seinem Danke hatte er diesen Eindruck gehabt, trotz Dunkelheit – ein Dank für das unglaublichste Einvernehmliche zwischen zwei Menschen, beim ersten Mal noch kaum zu begreifen, noch kaum in Worte zu fassen, wie viel darüber auch geredet wird oder wie oft man es in Filmen sieht.

Und auf einmal Assisi, wuchtig am Berg, wie ein geordneter Steinbruch: War das elf oder zwölf Jahre her, dass er mit Vila durch die Gassen fuhr, einen Weg zum Hotel San Francesco suchte, hinten der Hund, ein geduldiges Bündel? Renz kam es vor, als läge zwischen damals und jetzt das Gewicht seines Lebens. Sie waren noch jung in ihren ersten Assisi-Tagen, und dann hatte er Kasper von der Leine gelassen, als sie über den Platz vor der Basilika gingen, und die Katze übersehen, die auf einer der Steinbänke in dem Kreuzgang saß. Damals wollte er für eine Priesterserie recherchieren, und nun suchte er im eigenen Leben herum, nach den Tagen, den Nächten vor dem Unglück, nach Stunden auf der kleinen Dachterrasse des Hotels, Vila und er unter Sternen wie an den Himmel genagelt, oder mittags am Zimmerfenster, als ein Sturzregen niederging und sich die Tagesbesucher unter Schirmen und Pelerinen vor den Basilikamauern drängten, während er Vila von hinten nahm, den Kopf halb neben ihrem, sie beide unschuldig aus dem Fenster sahen; danach das Beieinanderliegen, nichts als atmend, seine Hand in den Mäandern eines satten Schoßes, eine der Stunden, die ihm ein ganzes Wort erschlossen hatten, Zufriedenheit. Renz fuhr Schritt, eine steile Gasse an der Rasenfläche vor der Basilika, und dann tauchte das Hotel auf, quer über die Front der Name, über dem letzten Buchstaben das Fenster von damals, die Läden geschlossen. Er hielt auf dem Vorplatz neben Andenkenbuden, Pilger und Nonnen wichen zur Seite – der große schwarze Wagen, auch ein monströser, zu Boden gefallener Priester. Renz ließ den Motor im Leerlauf; man durfte hier nur halten, um Gepäck auszuladen, dann musste man weiter zu einem entfernten Parkplatz, und natürlich hatten sie vor elf, zwölf Jahren – eher zwölf – sofort gestritten, sich angeschrien, alles...

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