Die italienischen Schuhe - Roman

Die italienischen Schuhe - Roman

von: Henning Mankell

Paul Zsolnay Verlag, 2012

ISBN: 9783552054837

Sprache: Deutsch

368 Seiten, Download: 3709 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die italienischen Schuhe - Roman



1


IMMER WENN es kalt ist, fühle ich mich einsamer.

Die Kälte vor dem Fenster läßt mich an die Kälte meines Körpers denken. Ich werde von zwei Seiten angegriffen. Aber ich kämpfe ständig dagegen an, gegen die Kälte wie gegen die Einsamkeit. Deshalb hacke ich jeden Morgen ein Loch ins Eis. Stünde jemand mit einem Fernglas draußen in der zugefrorenen Bucht, würde er annehmen, ich sei verrückt und im Begriff, meinen Tod vorzubereiten. Ein nackter Mann in der eisigen Kälte, mit einer Axt in der Hand, eifrig dabei, ein Loch ins Eis zu hacken?

Vielleicht hoffe ich insgeheim, da draußen wäre eines Tages jemand, ein schwarzer Schatten in all dem Weiß, der mich sieht und sich fragt, ob er eingreifen soll, bevor es zu spät ist. Doch man braucht mich nicht zu retten, da ich nicht die Absicht habe, Selbstmord zu begehen.

Früher im Leben, im Zusammenhang mit der großen Katastrophe, wurden die Verzweiflung und der Zorn so stark, daß ich erwog, Schluß zu machen. Doch ich habe es nie versucht. Die Feigheit ist mein treuer Begleiter. Damals wie heute denke ich, daß es im Leben darum geht, nicht loszulassen. Das Leben ist ein dünner Ast über einem Abgrund. Daran hänge ich, solange ich die Kraft dazu habe. Dann stürze ich ab, und ich weiß nicht, was mich erwartet. Gibt es jemand da unten, der mich auffängt? Oder ist es nur eine kalte und harte Dunkelheit, die mir entgegenrast?

Das Eis breitet sich aus.

Der Winter ist streng in diesem Jahr, am Beginn des neuen Jahrtausends. Heute morgen, als ich in der Dezemberdunkelheit aufwachte, meinte ich zu hören, wie das Eis sang. Ich weiß nicht, woher ich die Vorstellung hatte, daß das Eis singen kann. Vielleicht war es etwas, was mein Großvater, der hier draußen auf seiner Schäre geboren ist, zu mir sagte, als ich klein war.

Doch ich erwachte von einem Geräusch in der Dunkelheit. Es war weder die Katze noch der Hund. Meine Katze ist alt und steifbeinig, mein Hund ist auf dem rechten Ohr stocktaub, und auf dem linken hört er nur noch sehr schlecht. Ich kann an ihm vorbeischleichen, ohne daß er es merkt.

Aber dieses Geräusch?

Ich versuchte, mich in der Dunkelheit zu orientieren. Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, daß es das Eis war, das sich rührte, obwohl es hier in der Bucht mindestens zehn Zentimeter dick ist. Letzte Woche, an einem Tag, an dem ich unruhiger war als gewöhnlich, ging ich hinaus bis zur Kante, wo das Eis auf das offene Meer trifft. Dort lag es über einen Kilometer jenseits der äußersten Schären. Das Eis dürfte sich also hier in der Bucht kaum bewegen. Doch es hob und senkte sich, es knackte und sang.

Ich lauschte dem Geräusch und dachte wieder, wie schnell mein Leben doch vergangen ist. Jetzt war ich hier. Ein Mann von sechsundsechzig Jahren, finanziell unabhängig, der eine Erinnerung in sich trägt, die ihn ständig plagt. Ich bin in einer Armut aufgewachsen, die man sich heute in diesem Land kaum noch vorstellen kann. Mein Vater war ein übergewichtiger Kellner, den man häufig schikanierte, und meine Mutter versuchte, mit dem Geld auszukommen. Aus diesem Armutsbrunnen bin ich hochgeklettert. Als Kind habe ich hier draußen gespielt und nichts von der Zeit geahnt, die ständig schrumpft. Damals waren mein Großvater und meine Großmutter noch rührige Menschen, nicht zur Unbeweglichkeit und zum Warten verurteilt. Er roch nach Fisch, und ihr fehlten sämtliche Zähne. Obwohl Großmutter immer freundlich war, lag etwas Erschreckendes darin, zu sehen, wie sich ihr Lächeln zu einem schwarzen Loch öffnete.

Eben noch befand ich mich im ersten Akt. Jetzt hat bereits der Epilog begonnen.

Das Eis sang da draußen in der Dunkelheit, und ich fragte mich, ob ich gleich einen Herzanfall bekommen würde. Ich stand auf und maß den Blutdruck. Mir fehlte nichts, der Blutdruck war 155/90, der Puls normal, 64 Schläge. Ich tastete, ob es mir irgendwo weh tat. Das linke Bein schmerzte leicht. Das tut es eigentlich immer, und es beunruhigt mich nicht. Aber das Eis da draußen bereitete mir Unbehagen. Es war wie ein eigentümlicher Chor von undeutlichen Stimmen. Ich setzte mich in die Küche und wartete auf die Dämmerung. Es knackte in den Holzbalken. Wahrscheinlich war es das Holz, das sich in der Kälte zusammenzog, oder eine Maus, die sich in einem ihrer heimlichen Gänge bewegte.

Das Thermometer vor dem Haus zeigte minus 19 Grad.

Heute werde ich es wie an allen anderen Wintertagen machen. Ich ziehe einen Bademantel und ein Paar abgeschnittene Stiefel an, nehme die Axt und gehe hinunter zum Landungssteg. Es ist nicht schwer, das Loch aufzuhacken, da das Eis dort nicht stark gefroren ist. Dann ziehe ich mich aus und tauche in das körnige Wasser ein. Es tut weh, aber es ist, als würde sich die Kälte in eine intensive Wärme verwandeln, wenn ich mich erst wieder auf das Eis hochgezogen habe.

Ich steige in mein schwarzes Loch, um zu spüren, daß ich noch lebe. Hinterher ist es, als würde die Einsamkeit langsam verklingen. Vielleicht sterbe ich eines Tages, wenn ich in das Loch hinuntersteige. Da ich den Boden mit den Füßen erreiche, werde ich nicht unter der Eisdecke verschwinden. Ich werde in dem Loch stehen, das um mich bald wieder zufrieren wird. Dort wird Jansson, der die Post hier draußen zwischen den Inseln austrägt, mich finden.

Er wird nie, solange er lebt, verstehen, was geschehen ist.

Aber das ist mir gleich. Ich habe hier draußen auf der Schäre, die ich geerbt habe, mein Zuhause wie eine uneinnehmbare Festung eingerichtet. Wenn ich auf den Felsen hinter dem Haus steige, sehe ich direkt aufs Meer. Dort gibt es nichts als Schären und flache Klippen, die ihre schwarzen glatten Rücken dicht über der Wasseroberfläche oder der Eisdecke sehen lassen. In der anderen Richtung werden die inneren Schären dichter. Aber nirgends sehe ich ein Haus, nur mein eigenes.

Natürlich war es nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Dieses Haus sollte mein Sommerhaus werden. Nicht die äußerste Festung, die ich verteidigen muß. Jeden Morgen, an dem ich mein Loch aufhacke oder in ein sommerwarmes Wasser steige, kehrt meine Verwunderung über das, was mit meinem Leben geschehen ist, zurück.

Ich weiß, was geschehen ist. Ich habe einen Fehler begangen. Und ich habe mich geweigert, die Folgen zu akzeptieren. Hätte ich gewußt, was ich heute weiß, was hätte ich dann getan? Ich kann es nicht beantworten.

Ganz sicher bin ich mir nur, daß ich dann nicht wie ein Gefangener hier draußen am offenen Meer sitzen müßte.

Ich hätte mein Leben nach dem einmal gefaßten Plan gelebt.

Schon früh habe ich beschlossen, Arzt zu werden. Es geschah an dem Tag, an dem ich fünfzehn Jahre alt wurde und mein Vater mich zu meiner großen Überraschung in ein Restaurant einlud. Er, der selbst Kellner war und als Ergebnis eines hartnäckigen Kampfes um seine Würde nur tagsüber arbeitete, nie an den Abenden. Wurde er zur Abendschicht eingeteilt, kündigte er. Ich erinnere mich noch an das besorgte Weinen meiner Mutter, wenn er heimkam und mitteilte, daß er gekündigt habe. Jetzt würde er mich ins Restaurant mitnehmen. Ich hörte meinen Vater und meine Mutter darüber streiten, ob es richtig wäre. Es endete damit, daß meine Mutter sich im Schlafzimmer einschloß. Das tat sie immer dann, wenn ihr etwas zuwiderlief. Während besonders schwieriger Auseinandersetzungen verbrachte sie ganze Tage eingeschlossen in ihrem Zimmer. Dort roch es nach Lavendel und Tränen. Ich selbst schlief dann auf der Küchenbank, und mein Vater legte unter tiefen Seufzern eine Matratze auf den Boden.

Ich bin in meinem Leben vielen weinenden Menschen begegnet. Während meiner Jahre als Arzt habe ich Sterbende kennengelernt und jene, die einsehen mußten, daß ein naher Angehöriger von einer unheilbaren Krankheit befallen war. Aber nie hatten ihre Tränen einen Duft, der an die Tränen meiner Mutter erinnerte. Auf dem Weg zum Restaurant erklärte mir mein Vater, daß sie überempfindlich sei. Manchmal frage ich mich heute noch, was ich geantwortet habe. Was konnte ich eigentlich sagen? Meine ersten Erinnerungen im Leben waren, daß ich meine Mutter Stunde um Stunde über das mangelnde Geld, über die Armut weinen hörte, die an allem in unserem Leben zehrte. Mein Vater schien ihr Weinen nicht zu hören. War sie guter Laune, wenn er heimkam, war alles gut. Lag sie mit ihrem Lavendelduft im Bett, war es auch gut. Mein Vater verbrachte gern seine Abende damit, die große Sammlung von Zinnsoldaten zu ordnen und sie nach den Rekonstruktionen historischer Feldschlachten aufzustellen. Bevor ich einschlief, kam es vor, daß er sich auf meine Bettkante sinken ließ, mir über den Kopf streichelte und bedauernd sagte, es sei leider nicht möglich, mir eine Schwester oder einen Bruder zu schenken.

Ich wuchs in einem Niemandsland auf, zwischen Tränen und Zinnsoldaten. Und mit einem Vater, der hartnäckig behauptete, daß das, was einen Kellner mit einem Opernsänger verbinde, die Notwendigkeit sei, bei der Arbeit ordentliche Schuhe zu tragen.

Es geschah, wie er es beschlossen hatte. Wir gingen ins Restaurant. Ein Kellner kam, um die Bestellung aufzunehmen. Mein Vater stellte weitschweifige und kenntnisreiche Fragen über den Kalbsbraten, den er schließlich bestellte. Ich selbst hatte mich zu Hering entschlossen. Die Sommer draußen auf der Insel hatten mich gelehrt, Fisch zu mögen. Der Kellner entfernte sich.

Es war das erste Mal, daß ich Wein trinken durfte. Ich war sofort betrunken. Nach dem Essen betrachtete mein Vater mich mit einem Lächeln und fragte, was ich mit meinem Leben anfangen wolle.

Ich...

Kategorien

Service

Info/Kontakt