Spätvorstellung - Von den Abenteuern des Älterwerdens

Spätvorstellung - Von den Abenteuern des Älterwerdens

von: Jutta Voigt

Aufbau Verlag, 2012

ISBN: 9783841204806

Sprache: Deutsch

251 Seiten, Download: 3676 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Spätvorstellung - Von den Abenteuern des Älterwerdens



Venedig – das Fest


Jetzt bin ich alt, denkt Sylvie, ab heute kann ich es nicht mehr vergessen. Sie hat keinem von dem Fest erzählt, das sie nachher feiern werden, sie hat auch Konrad verpflichtet, niemandem etwas zu sagen, Wörter schaffen Wirklichkeit. Konni, warum haben wir so früh geheiratet, und warum sind wir so lange zusammen geblieben. Jetzt bin ich alt, spricht sie vor sich hin, alt in Venedig. Der Palazzo Contarini ist schon lange alt, die Seufzerbrücke und San Marco existieren ewig schon als wertvolle, alte Schätze der Weltkultur. Sylvie ist kein wertvoller, alter Schatz der Weltkultur, sie ist erst seit heute alt, seit dieser Tag, seit dieses Fest gekommen ist. Seit dieses Datum von ihr das Geständnis einfordert, alt zu sein; ein Spritz bitte, mit Aperol! Venedig sollte es sein, wo sie ihr Fest feiern, unbedingt Venedig, weil es alt ist und schön. Venedig wird versinken, untergehen, rettungslos, die Zeit, die der Stadt bleibt, ist überschaubar, Schönheit am Rande des Todes, sagt der Philosoph.

Der junge Kellner scherzt mit zwei jungen Frauen, man kann das Meer riechen, das Handy klingelt. Konrad fragt, was er für das Frühstück morgen einkaufen soll, ob Sylvia was Bestimmtes wolle, falls sie heute Abend zu viel trinken würden. Konni liebt Supermärkte, besonders die im Ausland, da fühlt er sich nicht fremd, und doch gibt es fremde Sachen, andere Kekse, anderes Bier, andere Frauen an der Kasse. Anschließend geht er in die Galleria dell’Accademia, Tizians und Tiepolos angucken. Er sucht immer wieder dieselben fünf oder sechs Bilder auf, schon nach dem ersten Frühstück in Venedig ging er los, zur Begrüßung. Ich hab mich bei meinen Freunden sehen lassen, sagte er, alle noch da. Und wie immer, kurz vorm Rausgehn, die riesige Leinwand mit der Jungfrau Maria, wie sie als kleines Mädchen die Stufen zum Tempel emporsteigt. Sie ist immer noch auf derselben Stufe, vermeldete er. Sylvie und Konrad machen nicht alles gemeinsam, sie schätzen Distanz und freuen sich, aufeinander warten zu können.

Der Mann fürs Leben – geht das? Die Frau fürs Leben – kann das sein? Ein einziger Mensch für alles? Sylvie lacht vor sich hin. An der Litfasssäule vor ihrem Wohnhaus in Berlin klebte wochenlang das Porträt eines stadtbekannten Kulturträgers, ein Friseur, dessen große Visage Konrad nicht länger ertragen wollte. Am späten Abend steckte er sich zwei rohe Eier in die Manteltasche, ging runter und warf sie auf das Plakat. Drei Anläufe musste er nehmen, bis er das Gesicht des Friseurs an der richtigen Stelle traf, sechs Eier an drei Abenden gingen drauf dafür. Das erzählte er dem Eierverkäufer vom Markt. Dem ehemaligen Punk gefiel der Eierwurf auf das Coiffeurgesicht so gut, dass er Konrad vier Eier kostenlos überließ.

Eine ältere Dame sitzt allein an einem Kanal in Venedig und lacht über ihren alten Mann, der Eier schmeißt. Ein einziger Mensch, nicht für alles, aber für manches. Konrad neigte immer schon zu Extremen. Als Sechsjähriger hatte er einen Nachbarsjungen, der ein bisschen zurückgeblieben und deshalb gut als Publikum zu gebrauchen war, an einen Stuhl gebunden und ihm Kaspertheater vorgespielt. So hatte er einen Zuschauer, der nicht wegrennen konnte und seiner Vorführung wohl oder übel folgen musste. Am liebsten hätte er das mit einem erwachsenen Publikum später genauso gemacht. Diktatoren fangen klein an.

Sylvie sieht in das sonnige Orange des Cocktails. Das Café hat ein paar Stühle rausgestellt an diesem milden Herbsttag Ende Oktober. Venedig ist dörflich hier, die Sonne scheint mit letzter Kraft. Sylvie überkommt eine bodenlose Müdigkeit, eigentlich will sie nicht denken, nur fühlen, heilige Kontemplation. Auf der anderen Seite des Kanals führt eine Frau ihre Mutter aus, die am Stock geht und ein Kopftuch trägt. Unter ihrem Kamelhaarmantel ist ein roter Rock zu sehen. Die Alte guckt nach unten, sie muss, ihr Rücken ist so krumm, dass sie ihren Kopf nicht heben kann. Mutter und Tochter gehen stumm nebeneinander her, öfter bleibt die Alte stehen und zieht ihren Rock hoch, als fürchte sie, dass er von ihrem mageren Körper rutscht, wie würde sie denn dastehen ohne ihren roten Rock.

Was hat die alte Frau noch vom Leben? Den Duft des Wassers, das Wehen des Windes, die vertraute Unebenheit des Straßenpflasters, die späte Sonne? Die Erinnerung hat sie, das Bewusstsein ihres ganzen Lebens, alles ist vergangen und nichts. Vielleicht war sie ja mal eine Femme fatale, »schön wie ein Engel, böse wie ein Dämon«, wie Madame de Villeparisis, deren Altersverfall Marcel Proust in »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« beschreibt. Aus der einst bewunderten und gefürchteten Schönheit war »eine abscheuliche, kleine, rotgesichtige Bucklige« geworden.

Goldene Hochzeit, spricht Sylvie vor sich hin, Goldene Hochzeit, Goldene Hochzeit. Als könne die Wiederholung den beiden Wörtern das Unfassbare nehmen und das Vergehen der Zeit weniger fremd erscheinen lassen. Fließt die Zeit oder weht sie, steht sie oder vergeht sie, ist sie ein Gefühl, ein Gesetz oder ein Geheimnis? Sie schreibt eine SMS: Hast du die Zeit gesehen, Konni? Er antwortet: Nicht persönlich, sie war in Eile.

Konrad hatte Sylvie einst bei den Schularbeiten in Kunstgeschichte geholfen, einmal verhalf er ihr zu einer Eins, einmal zu einer Fünf. Kennengelernt hatten sie sich in der Möwe, einem Club für Künstler. Das Palais derer von Bülow war nach Kriegsende von der Sowjetmacht für die deutschen Künstler beschlagnahmt worden. In dem holzgetäfelten Speisesaal bekamen sie nach dem Krieg zu essen, damit sie zu Kräften kamen und den Faust aufführen konnten und Die Zauberflöte, Mutter Courage und Die lustige Witwe. Das blieb so über vierzig Jahre, Schweinesteaks, Ginfizz und Amüsement zu ermäßigten Preisen, ein exklusiver Ort.

Bevor sie Konrad kannte, war Sylvie ein einziges Mal dort gewesen. Das Restaurant hatte sie mäßig interessiert, die Bar war es, Ort der Versprechen und Erwartungen. Gedämpftes Licht, halbrunder Tresen, Kamin, der Barkeeper in weißem Dinnerjackett. Gloria und Sylvie hatten am frühen Abend da gesessen, an einem Ginfizz genippt und geguckt, wer zur Tür reinkommt, »Love me tender« hatte Elvis Presley vom Tonband gesungen. Da erschien in der Tür ein Sänger vom Metropoltheater. Der schwarzhaarige Operettenbeau musterte mit arrogantem Blick die beiden Babydolls an der Bar, wechselte ein paar Worte mit dem Keeper und verschwand. Gloria wurde weißer als der Puder auf ihrem Gesicht, sprang auf und kündigte an, dass sie sich aus der S-Bahn stürzen würde. Sylvia ging mit ihr und hielt sie fest in der S-Bahn: Nicht wegen dem, Glory, der singt doch bloß im Chor!

Ein paar Wochen später wollte Sylvie mit drei Freundinnen in die Möwe, mit siebzehn hat man noch Träume, da wachsen noch alle Bäume in den Himmel der Liebe. Sie kicherten niedlich ins Gästebuch, bis Gertie auf einen Namen tippte: Konrad Ludens, den kenne ich. Die Garderobenfrau rief oben in der Bar an: Herr Ludens, hier sind vier junge Damen. Konrad kam die Treppe herunter, begrüßte die Mädchen und trug sie neben seinem Namen ins Gästebuch ein. Die Garderobenfrau protestierte: Vier Gäste, Herr Ludens, vier? Einen Gast durfte jedes Clubmitglied mitbringen. Seine drei Kollegen oben seien auch Clubmitglieder, entgegnete Konrad. Er hatte einen kanariengelben Pullover und grünschwarz gestreifte Röhrenhosen an, wie Marlon Brando sah der kein bisschen aus. Die Storchhosen wirkten nicht mehr ganz so katastrophal, als er im Laufe des Abends erwähnte, dass er sie von einem Gastspiel aus Paris mitgebracht hatte, aus Paris. Ein Trio spielte »Ich hab so Heimweh nach dem Schiffbauerdamm«, als Konrad und Sylvia sich in die Augen sahen. Er goss ihr das dritte Glas Rotwein ein. Ich werde aber nicht betrunken, hatte sie wachsam bemerkt.

Konni verkörperte eine andere Welt, das hatte Sylvie sehr gefallen. Sie hatte drei Monate lang kein einziges Wort gesagt vor lauter Staunen und der Anstrengung, die Röte zu verbergen, die bei den frivolen Reden der Schauspieler ihr Gesicht überzog; Osram einschalten nannte man das, nach der Firma Osram, die Glühlampen herstellte.

Das alles ist verdammt lange her und war doch gerade eben, gestern erst. So fühlen alle Alten, alle Alten fühlen so, nun auch ich, denkt Sylvie und hält ihr Gesicht in die Abendsonne. Es ist echt, dieses Gestern-erst-Gefühl, durch seine Wiederholung aber scheint es platt, abgenutzt, lächerlich. Ein milliardenfach vorgelebtes Gefühl ist kaum mehr als ein Gemeinplatz. Das Leben, gestern erst begonnen, morgen schon vorbei? Ja, was denkst denn du, Sylvie.

Bei Konni war plötzlich eine Operation notwendig geworden. Sofort, unaufschiebbar, Sylvie war in Panik. Was soll denn sein, hatte er gesagt und seine Hand auf ihre gelegt, was soll sein, da ist was drin, was weg muss, die schneiden auf, holen das raus, nähen wieder zu, das wars; Konnis Romantik ist die Sachlichkeit. Nach der geglückten Operation hatte er den Arzt gefragt: Was ist nun, Professor, habe ich Krebs, oder habe ich Krebs gehabt? Nein, Herr Ludens, Sie haben Krebs, Sie sind »auf Bewährung frei«. Das war vor drei Wochen, in Berlin.

Weit weg, hier ist Venedig. Gegenüber, auf der anderen Seite des Kanals, findet eine Hochzeit statt, eine jüdische Hochzeit. Die Braut im langen weißen Kleid schwankt auf hohen Schuhen mit dünnen Absätzen. Männer in schwarzen Anzügen, mit schwarzen Käppis, schwarzen Hüten und schwarzen Pejes laufen geschäftig umher. Man fotografiert sich, gefeiert wird im Gam-Gam nebenan, alles koscher. Sylvie versucht zu erkennen, ob sie schön ist, die Braut, doch ihr Gesicht wird verdeckt von langem, künstlich wirkendem schwarzem Haar. Das kurze Nerzcape, ein Erbstück wohl,...

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