Gesundheitsökonomie - Lehrbuch für Mediziner und andere Gesundheitsberufe

Gesundheitsökonomie - Lehrbuch für Mediziner und andere Gesundheitsberufe

von: Karl W Lauterbach, Stephanie Stock, Stefan Sauerland

Hogrefe AG, 2021

ISBN: 9783456760797

Sprache: Deutsch

438 Seiten, Download: 8736 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Gesundheitsökonomie - Lehrbuch für Mediziner und andere Gesundheitsberufe



|19|1  Einführung


Stefan Sauerland und Stephanie Stock

Das Dreieck zwischen Medizin, Ethik und Ökonomie ist durch Spannungen geprägt, die häufig in Begriffen wie „Ökonomisierung der Medizin“ oder „Rationierung in der Medizin“ zum Ausdruck kommen. Zu Konflikten zwischen Medizin und Ethik kommt es bei Problemen in der Allokation knapper nicht finanzieller Ressourcen (z. B. Beatmungsplätze für Covid-19-Fälle). Lange Zeit wurde dabei der notwendige Austausch zwischen Medizin und Wirtschaftswissenschaften durch gegenseitige Skepsis und Unwissenheit erschwert. In den letzten Jahren zeigt sich jedoch eine Tendenz in Medizin und Gesundheitsfachberufen, gesundheitsökonomischen Themen und Methoden mit mehr Offenheit zu begegnen. Für die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen und sparsamen Verwendung der Ressourcen in der medizinischen Versorgung gibt es somit heute einen breiteren Konsens als dies noch vor Jahren der Fall war. Hier ergeben sich große und wichtige Bereiche, in denen gesundheitsökonomische Themen auf allen Ebenen idealerweise kooperativ bearbeitet werden. Dennoch ist es wichtig, gesundheitsökonomische Ziele und Begriffe richtig einzuordnen, um Missverständnissen vorzubeugen. Wesentlich sind hier die Begriffspaare Rationalisierung versus Rationierung und Ökonomisierung versus Kommerzialisierung.

Rationalisierung zielt darauf ab, die Leistungserbringung effektiver zu gestalten, indem entweder der Aufwand für eine Leistung reduziert oder der Nutzen der Leistung erhöht wird. Wenn man deutlich macht, dass Rationalisierung nicht notwendigerweise darauf abzielt, Kosten zu reduzieren oder die Arbeitsleistung der im Gesundheitswesen Tätigen immer weiter zu steigern, ist Rationalisierung als positives Ziel auch für Außenstehende nachvollziehbar. Vor allem ein erhöhter Nutzen medizinischer Leistungen wird generell positiv gesehen, jedoch nur selten mit gesundheitsökonomischem Denken in Verbindung gebracht. Das Wort „Ratio“ (lat. Vernunft) zeigt an, dass hinter Rationalisierung oft wissenschaftlich sehr fundierte Konzepte stehen, z. B. das Konzept der Evidenz-basierten Medizin (EbM) als methodischer Werkzeugkasten oder die Operationalisierung der Lebensqualität von Patient*innen.

Ökonomisierung, also die Einführung marktwirtschaftlicher Denkprinzipien, ist eng mit Rationalisierung verbunden, muss jedoch in denselben Grenzen verstanden werden. Niemand wird etwas dagegen einwenden, dass medizinisches Handeln ökonomisch (im Sinne von effizient) erfolgen soll. Entscheidend sind die Messgrößen, anhand derer sich die Qualität der medizinischen Versorgung messen lassen muss [1]. Finanzielle Messgrößen allein sind hierfür unzureichend. Für die Versorgung im Rahmen der deutschen GKV (gesetzliche Krankenversicherung) nennt das Sozialgesetzbuch V (SGB V) daher gleich mehrere gleichberechtigte Ziele: So soll die medizinische Versorgung ausreichend, notwendig, zweckmäßig, wirtschaftlich, bedarfsgerecht, gleichmäßig und human sein. Auch wenn diese sieben Adjektive eine rationelle ökonomische Medizin begründen, ist sofort erkennbar, dass Aspekte der Medizinethik ebenfalls zu beachten sind.

|20|Die Gegenbegriffe Rationierung und Kommerzialisierung lassen dagegen klare Widersprüche zu hippokratisch-ethischen Prinzipien erkennen. Rationierung als das Vorenthalten einer medizinischen Leistung trotz positiver Kosten-Nutzen-Relation widerspricht im Kern dem gesellschaftlichen Konsens, dass Kranke eine notwendige Behandlung erhalten sollen, wobei auch der Begriff der Notwendigkeit zu spezifizieren wäre. Kommerzialisierung als ein primär gewinnmaximierendes Handeln kann je nach Ausprägung andere Versorgungsziele verhindern, bspw. wenn die autonome Entscheidung der erkrankten Person übergangen wird oder eine nutzlose Behandlung „verkauft“ wird. Die neoliberale Idee, dass die Leistungsanbieter im Gesundheitswesen durch mehr Freiräume für eigenes kommerzielles Agieren auch insgesamt eine qualitativ bessere Versorgung anbieten, hat sich, zumindest wenn man regelmäßige Ländervergleiche der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zugrunde legt, insgesamt nicht bewahrheitet.

Auch wenn Rationierung und Kommerzialisierung in Deutschland weitgehend abgelehnt werden, so fällt vielen Akteuren im Gesundheitswesen weiterhin die Einschätzung gesundheitsökonomischer Konzepte und Projekte schwer, weil gesundheitsökonomische Methoden wertneutral sowohl für Rationalisierung als auch für Rationierung verwendet werden können. Auch führen viele Neuerungen im Gesundheitswesen sowohl zum einen als auch zum anderen. Nach Umfragen unter der deutschen Ärzteschaft sind (verdeckte, implizite) Rationierung und Kommerzialisierung im medizinischen Alltag bereits weit verbreitet [2, 3]. Die Bundesärztekammer sieht vor allem die Kommerzialisierung mit wachsender Sorge und will die Medizin wieder stärker an ethischen Werten orientieren [4]. Gleichzeitig aber gibt es seit jeher auch kommerzielle Teilbereiche in der Medizin (z. B. die Schönheitschirurgie). Es geht also nicht darum, Kommerzialisierung abzuschaffen, sondern ihre negativen Einflüsse auf die zentralen Bereiche und Werte in der Gesundheitsversorgung zu begrenzen. Der wesentliche Unterschied besteht hierbei darin, dass sich nach den allgemeinen Gesetzen des Marktes Leistung und Gegenleistung entsprechen, dass aber in einer solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung diese Gegenseitigkeit von Leistung und Gegenleistung aufgehoben ist, sodass andere Bewertungsmaßstäbe benötigt werden.

Die allgemeinen wirtschaftlichen und demografischen Rahmenbedingungen lassen erwarten, dass der ökonomische Druck auf die medizinische Versorgung weiter zunehmen wird [5]. Anhand von Modellrechnungen wird prognostiziert, dass der GKV-Beitragssatz von 14,6 % (im Jahr 2020) auf 16,9 % im Jahr 2040 ansteigen müsse, sofern keine wirksamen Kostendämpfungsmaßnahmen ergriffen werden [6]. Die Folgen der Corona-Pandemie sind hierbei noch nicht eingerechnet. Weil Deutsche im internationalen Vergleich einen mit 84 % sehr hohen Anteil ihrer Gesundheitsleistungen durch Versicherungen erstattet bekommen [7], ist es möglich, dass – so wie in anderen Ländern auch – zukünftig manche Leistungen nicht länger erstattungsfähig bleiben oder werden. Eine solche Rationierung, falls sie wirklich erforderlich wird, müsste offen und transparent erfolgen, wobei eine Bewertung des Nutzens bzw. eine grenzwertige Kosten-Nutzen-Relation die zentralen Kriterien sind [8].

All dies wird die Bedeutung, aber auch das Konfliktpotenzial der Gesundheitsökonomie auf allen Ebenen wachsen lassen. Dies betrifft bspw. die Preisfindung und Vergütung von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Auf der Makro-Ebene des Gesundheitssystems kann (und will) man aber nicht alle Konflikte lösen, sodass diese weiter in die Meso- und Mikro-Ebene geschoben werden. Hierdurch steigt der Bedarf an betriebswirtschaftlicher Steuerung vor allem auf der Ebene von Krankenkassen, Krankenhäusern, Arztpraxen und Pflegeeinrichtungen. Denn von den insgesamt knapp 400 Milliarden Euro, die derzeit in Deutsch|21|land pro Jahr für Gesundheit ausgegeben werden, entfällt ein Großteil auf diese Versorgungsbereiche. Überall gilt es, sowohl bei der Methodik als auch bei den Zielen, eine ausgewogene Balance und einen Austausch zwischen Ökonomie und Medizin zu finden.

Literatur


  1. Mühlbacher A. Ökonomisierung: Ohne Patientenpräferenzen kein sinnvoller Wettbewerb. Dtsch Arztebl. 2017;114:A-1584–90.

  2. Kern AO, Beske F, Lescow H. Auswertung einer Leserumfrage: Leistungseinschränkung oder Rationierung im Gesundheitswesen? Dtsch Arztebl. 1999;96:A-113–7.

  3. Strech D, Danis M, Löb M, Marckmann G. Ausmaß und Auswirkungen von Rationierung in deutschen Krankenhäusern: Ärztliche Einschätzungen aus einer repräsentativen Umfrage. ...

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