Selbstsorge bei Demenz - Alltag, Würde, Spiritualität

Selbstsorge bei Demenz - Alltag, Würde, Spiritualität

von: Harm-Peer Zimmermann, Simon Peng-Keller

Campus Verlag, 2021

ISBN: 9783593446943

Sprache: Deutsch

375 Seiten, Download: 997 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Selbstsorge bei Demenz - Alltag, Würde, Spiritualität



Selbstsorge bei Demenz. Annäherungen an einen neuen Leitbegriff


Harm-Peer Zimmermann, Simon Peng-Keller

›Selbstsorge‹ – mit diesem Begriff möchten wir dazu beitragen, verbreitete Einstellungen und Vorstellungen zu korrigieren, nach denen Menschen mit Demenz vor allem pflegebedürftig sind, und das heißt: vor allem passiv, teilnahmslos und abhängig von Betreuung. Selbstverständlich plädieren wir damit nicht dafür, nun etwa Pflege und Betreuung zu vernachlässigen oder ihren Stellenwert zu schmälern. Im Gegenteil, wir möchten auch zu einer weiteren Verbesserung von Pflege- und Betreuungssituationen beitragen. Dafür berufen wir uns in erster Linie auf Tom Kitwood (1937–1998), den englischen Sozialpsychologen, der den »personzentrierten Ansatz« in der Theorie und Praxis der Pflege von Menschen mit Demenz begründet hat. Mit Tom Kitwood gehen wir davon aus, dass gute Pflege und Betreuung sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie das Selbst und die Persönlichkeit von Menschen mit Demenz zu erhalten und zu stärken suchen. Und damit sind vor allem auch die »Selbstkompetenz« und das »Selbstwertgefühl« gemeint (Kitwood 2013: 264).

Somit richten wir die Aufmerksamkeit auf vielfältige Lebensressourcen, darauf, was Menschen mit Demenz alles tun, sein und erleben können, und zwar einerseits für sich selbst, andererseits für andere: für Angehörige, Freunde, Nachbarn und für ihr Lebensumfeld insgesamt. Sogar noch für fortgeschrittene Stadien der Demenz möchten wir von Möglichkeiten der Selbstsorge sprechen; und das ist zweifellos gewagt: Wir riskieren, für wirklichkeitsfremd oder gar für verstiegen gehalten zu werden. Ist denn nicht für jedermann offensichtlich, dass am Ende der Demenz nichts bleibt als vollständige Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit? Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Wir möchten diese Phasen der Demenzerkrankung keineswegs bagatellisieren oder gar beschönigen. Doch wir möchten vorschlagen, nicht sozusagen reflexhaft immer wieder in den Bann von offenkundigen Einschränkungen und Verlusten zu geraten. Denn das entmutigt alle Beteiligten, fixiert den Blick und die Gedanken aufs Negative, lähmt die Deutungssouveränität.

Lassen Sie uns deshalb über das oft Gesehene und Gesagte einfach einmal kühn hinwegsehen. Denn nur so, durch Ausklammerung des allzu Offensichtlichen, können wir die nicht selten feinen und zerbrechlichen Formen der Selbstsorge noch in späten Phasen der Demenz überhaupt bemerken und würdigen. In diesem Beitrag skizzieren wir die Konturen dessen, was ›Selbstsorge‹ im Kontext demenzieller Erkrankung bedeuten kann. Im ersten Schritt situieren wir unseren Begriff in der kritischen Demenzforschung. Um ›Selbstsorge‹ auch für fortgeschrittene Phasen der Demenz reklamieren zu können, werden wir den uns leitenden Begriff im zweiten Schritt kulturanthropologisch und phänomenologisch profilieren. Daran anknüpfend, gehen wir an zwei Fallbeispielen der Beobachtung nach, dass sich Selbstsorge oft in Erinnerungs- und Erwartungsbildern imaginativ darstellt, und wenden uns schließlich spirituellen Selbstsorgekonfigurationen zu.

›Selbstsorge‹ als neuer Begriff der Demenzforschung und -diskussion


Der Begriff »Selbstsorge« taucht bisher kaum oder nur beiläufig in der Demenzforschung auf (Wunder 2008; Grebe 2013; Kruse 2017: 335; Kruse 2018; Zimmermann 2018). Das Anliegen, das wir mit ihm verknüpfen, ist jedoch seit geraumer Zeit wissenschaftlich präsent. Kurz gesagt, der Begriff »Selbstsorge« entwickelt einen Paradigmenwechsel weiter, den bahnbrechend Tom Kitwood begründet hat: die Wende vom defizitorientierten hin zum ressourcenorientierten Paradigma (Grebe u. a. 2012, Grebe 2019). Demnach können wir vielfältige »Handlungsressourcen« (Kitwood 2013: 131) überhaupt erst bemerken und würdigen, wenn wir einen Begriff beziehungsweise eine Ethik des Selbst zugrunde legen, die weit über das intellektuelle Vermögen, etwa die klare Merk- und Erinnerungsfähigkeit, hinausgeht (Rentsch 1994 und 2012; Rüegger 2013). Tom Kitwood ist der erste Demenzforscher gewesen, der entschieden gegen den von ihm so genannten Hyperkognitivismus (Kitwood 2013: 27) polemisiert hat, wie er in unserer Gesellschaft vorherrsche. Es sei »eklatanter Reduktionismus« (Kitwood 2013: 50), das Personsein allein auf kognitive Fähigkeiten zurückzuführen: Ich denke, also bin ich. – Und sonst bin ich nicht und nichts? Bloß ein Objekt der Pflege, ein ›Pflegefall‹? Kitwood hat also noch einen zweiten Paradigmenwechsel vorbereitet: vom cogito ergo sum hin zu einer Phänomenologie des Selbst, die den Leib und die Seele miteinbezieht. Kitwood spricht auch von »Ökologie« (Kitwood 2013: 165) des Selbst, gleichsam vom Biotop des ganzen Menschen mitsamt seinem Umfeld.

Das Personsein reduziert sich demnach keineswegs auf das, was etwa beim Mini-Mental-Status-Test herauskommt. Und auch dann noch, wenn man allein den Geist gelten lassen wollte, umfasst dieser weit mehr als rationales Denken und abstrakt abrufbares Wissen. Zudem sind Denkvermögen und Gedächtnisleistungen immer auch abhängig von Umweltbedingungen, von kommunikativen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen und Herausforderungen.1 Ein ganz anderes als das kognitivistische Menschenbild erhalten wir aber erst dann, wenn wir seelische und leibliche Ressourcen einbeziehen. Kitwood spricht von »verinnerlichten Weisen« (Kitwood 2013: 136). Heute sprechen wir vom Leibgedächtnis und von der habituellen Seinsweise der Persönlichkeit (Th. Fuchs 2010 und in diesem Band).

Inzwischen hat sich dieser von Kitwood so genannte personzentrierte Ansatz sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der Pflege durchgesetzt. Es gibt kaum noch eine Wissenschaftlerin und/oder eine Pflegefachperson, die nicht darum bemüht wäre, Handlungsressourcen von Menschen mit Demenz zu erkennen und zu fördern. Solange es eben geht, wird allseits zu einem selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Leben mit Demenz ermutigt. Jedoch handelt es sich vielfach immer noch, so ist unser Eindruck, um ein allzu eingeschränktes Selbst, das hier wahrgenommen und angesprochen wird. Für späte Phasen der Demenz sind nach wie vor Sichtweisen bestimmend, die das Personsein eines Menschen auf den Status eines ›Pflegefalls‹ reduzieren. Sich um ihn zu kümmern, die Übernahme von ›care‹, heißt dann in erster Linie, auf gute medizinische und hygienische Versorgung zu achten.2 Zumal in der breiten Öffentlichkeit sind vielfach Sichtweisen anzutreffen, wonach am Ende der Demenz von einem Menschen nicht viel anderes übrig bleibe als eine »leere Hülle«. Ja, ein Mensch in einem solchen Zustand des »Dahinvegetierens« sei eigentlich gar »kein Mensch mehr«.3

Auf solche Sichtweisen zielend, hat Tom Kitwood von »neuropathologischer Ideologie« gesprochen (Kitwood 2013: 76 u. 82). Bis heute ist sie virulent und tobt sich vor allem an späten Phasen demenzieller Erkrankungen aus. Und deshalb gilt es nun, besonders auf diese Phasen zu achten, um entpersonalisierenden und dehumanisierenden Tendenzen entschieden entgegenzutreten. Das soll hier versucht werden, indem wir den Begriff ›Selbstsorge‹ ausdrücklich auch für späte Phasen der Demenz reklamieren. ›Selbstsorge‹, darüber besteht inzwischen allgemeiner Konsens, umfasst in frühen, aber auch noch in mittleren Phasen der Demenz ein breites Spektrum an Möglichkeiten, sein Leben selbst zu gestalten und sein Umfeld mitzugestalten (Kruse 2010b u. 2017 sowie der Beitrag von H. Grebe in diesem Band). Die Selbstachtung und das Selbstvertrauen, die dafür nötig sind, lassen sich durch Selbsthilfegruppen und andere Angebote lange aufrechterhalten. Dabei ist ›Selbstsorge‹ keineswegs auf selbstbezügliches oder gar egozentrisches Handeln beschränkt. Gerade bei Menschen mit Demenz beobachten wir ein starkes Bedürfnis, »für andere von Nutzen zu sein« und mindestens eben so viel zu geben, wie man selbst an Hilfe empfängt (Kitwood 2013: 134 u. 163).

Was aber kann der Begriff ›Selbstsorge‹ bedeuten, was nicht bereits durch ähnliche Begriffe gesagt wäre, etwa durch Überlegungen zu einem »selbstbestimmten«, »selbstverantwortlichen« und »selbstgestalteten« Leben mit Demenz (Kruse 2010a)?

Selbstsorge und Selbsttranszendenz


Mit dem Begriff ›Selbstsorge‹ geht es uns um ein solidarisches...

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