Jungbleiben ist auch keine Lösung - Ein Buch übers Älterwerden

Jungbleiben ist auch keine Lösung - Ein Buch übers Älterwerden

von: Peter Schneider, Andrea Schafroth

Zytglogge Verlag, 2020

ISBN: 9783729623286

Sprache: Deutsch

209 Seiten, Download: 2619 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Jungbleiben ist auch keine Lösung - Ein Buch übers Älterwerden



II.
Das Ende


Der Anfang vom Ende


Sie haben den Alterungsprozess wechselweise mit einem Zuwachs- und einem Verlustmodell beschrieben. Den Verlust nehmen wir mit den Jahren viel stärker wahr. Werden wir blind für das, was wir dazugewinnen?

Nicht unbedingt. Aber die Verluste drängen sich deshalb in den Vordergrund, weil sie oftmals im wörtlichen Sinne viel mehr schmerzen. Denn diese Verluste sind oft gesundheitliche Beeinträchtigungen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und der Selbständigkeit. Dass man auch klüger geworden ist, verliert man leicht aus den Augen. Im Moment kann ich meine Gicht gut wegstecken, seitdem ich – mehrfach erprobt – weiß, wie schnell Cortison wirkt. Wenn solche Schmerzen ein Dauerzustand werden, wenn man vom Arzt gelobt wird, dass man tapfer ist und das alles sehr, sehr gut macht, dann weiß man, nun ist man in dem Stadium angelangt, wo einem die ganze gewonnene Klugheit nichts mehr nützt. Man wird bestenfalls mit derselben freundlichen Anerkennung bedacht wie eine Fünfjährige, die schon lesen kann.

In jüngeren Jahren ist das Altern vor allem ein Thema für kokettierende Smalltalks. Aber irgendwann wechselt die Perspektive – das Pendel schlägt mit voller Wucht auf die Seite des Verlustes ein. Bei mir passierte das mit 46, als mein Vater starb und kurz darauf eine gute Freundin. Zur Trauer kam das Gefühl, aus dem Leben hinausgeschleudert zu werden beziehungsweise aus dem, was ich bisher für das Leben gehalten hatte. Da ist man die ganze erste Lebenshälfte darauf konditioniert, sich eine Zukunft zu planen: Welche Schulen besuche ich, welche Ausbildung wähle ich, was könnte noch alles aus mir werden, an welchen Partner werde ich mich binden, will ich Kinder haben oder keine, welche Karriereleitern könnte ich noch erklimmen, wo könnte ich überall versagen? Plötzlich merkt man, wie absurd die Vorstellung dieses Vorwärtskommens ist angesichts der Tatsache, dass das Leben zum Tod führt. Man stellt fest, wie viel Energie man in Pläne gesteckt hat, die im Grunde gar keine Relevanz haben. Spielt es angesichts der Pensionierung eine Rolle, ob ich eine Karrierestufe mehr oder weniger genommen habe? Spielt es eine Rolle, ob ich berühmt war oder nicht, wenn ich dement bin? Ich frage mich, warum wir uns im Leben so verbissen auf die Zukunft hin orientieren, bis wir merken, dass sie uns vor allem Verluste bringt.

Man kann die Erfahrungen der Zukunft nicht vorwegnehmen. Soll man einem Kind sagen: Angesichts des Todes, der uns alle mal erwischt, ist es doch sowas von scheißegal, ob du ein Playmobil-Auto bekommst oder nicht. Hör also auf mit dem Theater! Ich empfinde es inzwischen als befreiend, wie sich der Gedanke des Vorwärtskommens relativiert; aber es ist traurig, wenn man in einem Angesichts-der-Ewigkeit-ist-doch-alles-wurscht-Klima aufwächst. Die Zeit dazwischen – zwischen Kindheit und hohem Alter – hat eben ihr eigenes Recht. Alles immer schon auf den Tod zu beziehen ist, als würde man beim Essen nur noch an den Stuhlgang denken.

Helfen Ruhm und Ehre?


Bedeutet der Tod für Barack Obama etwas anderes, weil er weiß, dass die Geschichtsschreiber*innen sich an ihn erinnern werden?

Ich glaube, er ist allein schon deshalb für ihn anders, weil er sicher sein kann, dass er im Pflegeheim respektvoller behandelt wird als wir beide zusammen. Der Gedanke, dass sich jemand an einen erinnert, dass etwas von einem bleibt, erleichtert einem zumindest die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit.

Da bin ich anderer Meinung. Gewiss ist der Gedanke schön, dass sich die eigenen Kinder und vielleicht ein bisschen auch noch deren Kinder an einen erinnern werden. Aber die Vorstellung, dass die anonyme Masse der Menschheit in 500 Jahren noch von mir redet, finde ich eher gruselig; das hat ja dann auch herzlich wenig mit mir zu tun. Es würde zudem bedeuten, dass man im Leben etwas erreicht haben muss, um glücklich sterben zu können.

Was das ist, was man «erreicht» haben sollte, darüber gehen die Meinungen eben auseinander. Ich möchte kein Topmanager sein, mir würde es reichen, dasselbe Gehalt zu haben. Was ich gar nicht mag, sind Topmanager, die mit 55 auf den Pfad der Erleuchtung kommen und einem dann erzählen, wie viel besser sie sich fühlen, seit sie Reitlehrer in der Bretagne oder Bierbrauer auf den äußeren Hebriden geworden sind. Aber das nur nebenbei. Ich glaube halt, dass man sich besser mit der eigenen Sterblichkeit anfreundet, wenn man nicht im Zorn zurückblickt.

Was soll daran verwerflich sein, Reitlehrer in der Bretagne zu werden oder sich auf ein Weingut in der Toscana zurückzuziehen, abgesehen davon, dass man damit ein Klischee bedient? Mir ist der Topmanager, der mit siebzig immer noch wie wild reorganisiert, jedenfalls nicht sympathischer.

Mir auch nicht. Mir gefällt nur nicht, wie diese Leute von einem Moment zum anderen vom Saulus zum Paulus werden. Erst die Arbeitskraft anderer Leute munter ausbeuten und einem dann erzählen, wie sehr Geld überschätzt wird und nichts über selbstgemachte Himbeermarmelade geht. Sie bleiben so dumm wie sie vorher waren, nur die Inhalte haben gewechselt. Aber ich gebe zu, ich rege mich da wahrscheinlich mehr über ein Klischee von konvertierten Managern auf als über konkrete Menschen.

Sie sagen, man muss etwas erreicht haben, um glücklich zu sterben. Ich behaupte, um glücklich zu sein, muss man sich von dieser Vorstellung lösen. Der Zwang, etwas zu erreichen oder jemand zu sein, erscheint mir so unsinnig wie das Prinzip des steten Wachstums und der Gewinnmaximierung in der Wirtschaft. Wir leben unser Leben doch nicht, damit wir uns am Ende zurücklehnen können und sagen: Ich habe etwas erreicht.

Nicht im Sinne einer Bilanz-Maximierung, sondern im Sinne der Erfüllung von Kinderwünschen, wie Freud sagen würde. Von ihm stammt der Satz: Glück ist die nachträgliche Erfüllung von Kinderwünschen. Diese Wünsche kann man sich meistens nur in abgewandelter Form erfüllen. Aber bei mir ist es tatsächlich so: Fast alles, mit dem ich heute in meinem Leben zufrieden bin, ist irgendwie über zahlreiche Umwege mit Wünschen aus der Kindheit und Jugend verbunden.

Was waren das denn für Wünsche? Das kann ich von mir nicht behaupten. Als Kind hatte ich viele verschiedene Wünsche, die eines gemeinsam hatten: Sie griffen nach den Sternen. Ich wollte Astronautin werden, eine Hollywood-Schauspielerin oder eine berühmte Archäologin. Ich wollte später mal keine Kinder haben und nicht in der Schweiz leben, sondern irgendwo in der großen weiten Welt. Nichts von allem, mit dem ich heute zufrieden bin, hat etwas mit meinen Kindheitswünschen zu tun. Es sei denn, man interpretierte diese über sehr, sehr viele Umwege. Im Gegenteil, ich bin froh, das Glück im wörtlichen wie im übertragenen Sinn nicht in den Sternen, sondern ganz in meiner Nähe gefunden zu haben.

Als Kind hat man mich den kleinen Professor genannt. Den Wunsch nach einer akademischen Nebenher-Karriere habe ich mir zum Beispiel mit meiner späten Habilitation mit Ende vierzig noch erfüllt. Wahrscheinlich ist es das Kindliche an dieser Wunscherfüllung, das dazu geführt hat, dass ich nie eine vollamtliche akademische Karriere gemacht habe. Ich nehme den Job mit den Studenten und Studentinnen ernst, aber auf eine gewisse Weise spiele ich tatsächlich den kleinen Professor von damals. Es ist, als hätte ich als Kind immer Verkäuferlis gespielt, und besäße inzwischen nebenher noch meinen eigenen kleinen Laden.

In einer Troja-Verfilmung sagt die Mutter von Achill zu ihrem Sohn, er müsse im Leben wählen zwischen irdischem Glück (bei seiner Frau bleiben) und ewigem Ruhm (in den Krieg ziehen). Der junge Held wählt selbstverständlich den Ruhm und bleibt bis heute unvergessen. Ein Topos aus der Mythologie, der aber seit der Antike auch im realen Leben wirkt.

Glück oder Ruhm: Was ist das für eine Alternative? Sie erinnert mich an «Geld oder Leben». Dabei handelt es sich auch nicht um eine Wahl, sondern um eine Drohung.

Die Frage bleibt: Brauchen wir Ruhm und Ehre, um unserem Leben Sinn zu geben? Viele Menschen betreiben viel Aufwand, um «etwas» zu erreichen, oder leben zumindest mit dem Gefühl, sie müssten das. Manche, so mein Eindruck, verzweifeln daran oder verpassen einiges, das sie vielleicht glücklicher machen könnte.

Es hängt natürlich davon ab, was das ist, was man unbedingt erreichen möchte. Wenn es eine Position in einer Firma ist, die einen dann mit 55 auf die Straße stellt, dann haben Sie recht. Aber andererseits: Mit welchem Ziel oder Nicht-Ziel wäre man glücklicher geworden? Man kann sich immer fragen: War es das wert? – und man wird zu unterschiedlichen Zeitpunkten in seinem Leben unterschiedliche Antworten auf diese Frage geben. Es gibt kein Kriterium, das vor der Ewigkeit Bestand hätte – da ja vor der Ewigkeit ohnehin nichts Bestand hat.

Es geht nicht darum, das ultimative Kriterium für das persönliche Glück zu finden, sondern jene Kriterien, die uns von außen und innen antreiben, zu relativieren. In meinem Umfeld beobachte ich, dass die Fallhöhe im Alter für Menschen, die ihr Leben und ihre...

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