Die Weisheit der Alten - Sieben Schätze für die Zukunft

Die Weisheit der Alten - Sieben Schätze für die Zukunft

von: Reimer Gronemeyer

Verlag Herder GmbH, 2018

ISBN: 9783451812965

Sprache: Deutsch

216 Seiten, Download: 995 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Weisheit der Alten - Sieben Schätze für die Zukunft



Die Schätze der Alten


Die Alten hüten einen Schatz. Den gilt es neu zu entdecken. Der Schatz ist vergessen, selbst die Alten wissen nichts mehr von ihm. Warum ist der Schatz vergessen? Wie sieht er aus? Wo kann man ihn finden und bergen?

Die Zeit, in der wir leben, ist innovationssüchtig. Die Innovation gehört zur Geschichte der Menschen, aber wir sind von Innovationssucht zerfressen. Was alt ist, ist auch schlecht: das alte Smartphone, der alte Pullover, die alte Software, das alte Gesicht. Zukunft, Wohlstand, Glück sind von der ständigen Erneuerung abhängig. Der Maßstab für das, was gut ist, heißt: Jung und neu muss es sein. Wir müssen nach vorne schauen, wird gesagt. Und: Nur der Stein, der rollt, setzt kein Moos an. Und so wird alles, was alt ist, unter der Lawine der Waren, der Erfindungen, der Mobilitäten, der Neuerungen begraben. Das Alte und die Alten, das erfahren die Alten täglich: Ihre Kompetenzen, ihre Erinnerungen, ihre Kenntnisse sind nichts mehr wert. Das Neue ist das Bessere. Das Alte gehört auf den Müll. Die Alten reagieren auf diese Verwerfung in zweierlei Weise: Entweder sie nehmen sich als abgehängt, überflüssig, lästig wahr. Oder sie versuchen, sich anzupassen, üben sich krampfhaft in ihren Bemühungen mitzuhalten. Man könnte sagen: Die einen werden depressiv, die anderen reisen herum. Die einen fügen sich in ihre Randlage, die anderen stolpern in bunter Outdoorkleidung von einer Sehenswürdigkeit zur anderen. Beides sind eigentlich Wege und Weisen, der Erfahrung – der Sinnlosigkeit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Summa: Das Alter ist leer. Nur die Flucht vor dem Alter scheint zu helfen. Und diese Erkenntnis gebiert, wenn man sich ihr aussetzt, eiskalten Schrecken.

In der Geschichte des Umgangs mit den Alten hat es alles gegeben: die Tötung der überflüssigen Esser, die Herrschaft der Alten als Hüter der Weisheit, die religiöse Verehrung der Alten als Brücke in die andere Welt. Aber nie das: Leere.

Die entfesselte Leistungsgesellschaft, die Gesellschaft der rasenden Innovation und der ununterbrochenen Modernisierung stigmatisiert in unverhohlener Rohheit alles, was alt ist: das Alter und die Alten. Diese Rohheit ist verkleistert, weil die Alten bei uns mehrheitlich gut versorgt sind, weil sie schwer erkennen können, dass sie die Aussätzigen der Leistungsgesellschaft sind. Es gilt nun, sich die Binde von den Augen zu reißen, um wahrnehmen zu können: Die Alten sind viele, sie haben ihre Renten, am Ende sogar ihre Pflegeheime … Aber sie sind unbrauchbar. Und aus der Schlangengrube, in die Alte sich gestürzt sehen, hilft kein Anti-Aging-Programm heraus. Anti-Aging, dieser modische Blödsinn, sagt eigentlich alles darüber, was vom Alter zu halten ist: nämlich nichts. Anti-Aging: weg mit dem Alter. Anti-Aging bringt auf den Begriff, was das letzte Wort, das die Leistungsgesellschaft über das Alter spricht, sein will: Ihr seid draußen.

Die Selbsttötungsrate ist bei den Alten die vergleichsweise höchste. Die Demenz, die sich wie eine Epidemie ausbreitet, ist ein alarmierendes Signal, wenn man bereit ist, sie einmal als ein Burnout-Phänomen zu lesen. Die Menschen mit Demenz sind vielleicht jene, die die Frage aufbringen, ob sie – wie auch immer – als Menschen am verächtlich gemachten Alter gescheitert sind: Sie sind ein kurioser, bitterer Kommentar zur Anti-Aging-Mode. Denn viele der Menschen mit Demenz halten sich für ziemlich jung. Sie sehen sich im besten Alter … Wenn das kein Kommentar zum Jugendlichkeitswahn und zur Anti-Aging-Mode ist … Die Frau mit Demenz zum Beispiel, die ihren Sohn als ihren Mann ansieht, die sagt ja: Ich bin grad mal 30. Die 76 Jahre, die in ihrem Personalausweis stehen, sind geleugnet.

»In Würde altern« – ein beliebter Satz in den Reden von Landräten und Bürgermeistern. In Wirklichkeit eine hohle Phrase, ein Beruhigungsmittel, das die Frage nach den Voraussetzungen, unter denen man in Würde altern kann, nicht aufkommen lässt. Da ihr Alten – das ist die heimliche Botschaft – ohnehin nicht mehr mitkommt, beschäftigt euch bitte im Seniorenspielzimmer der Gesellschaft damit, in Würde zu vergammeln. Seid zufrieden mit dem Seniorenteller – im Restaurant und im übertragenen Sinn – im Alltag.

Es ist an der Zeit, den Spieß umzudrehen. Tatsächlich gilt es, die Schätze, die die Alten hüten, neu zu entdecken. Sie bewahren nämlich Kenntnisse, Erfahrungen, Tugenden, Sichtweisen, die gerade überlebenswichtig werden. Haben nicht immer mehr Menschen das Gefühl, die Bodenhaftung zu verlieren? Wird nicht der Wunsch nach Gelassenheit stärker? Empfinden nicht viele, dass der Zusammenhalt in den Familien, im Alltag schwindet? Nehmen nicht die Panikattacken überhand? Ist der Single im Loft, der an nichts und niemanden gebunden ist, der vom konsumistischen Rausch mitgerissen wird und von Event zu Event stolpert, der nirgendwo zu Hause ist und sich in eisiger kommunikativer Kälte aufhält – ist das wirklich die beneidenswerte Symbolfigur, zu der alle hinstreben? Ist die explodierende Zahl derer, die ausgebrannt sind, ist die zunehmende Zahl der Depressiven nicht ein Fingerzeig? Wir geraten an eine Bruchstelle, wo die Frage nach dem »Mehr«, nach dem »Weiter so« an ihre Grenzen kommt. Die Wachstums-, die Innovations-, die Beschleunigungsgesellschaft beginnt, ihre Kinder zu fressen. Und das ist der Augenblick, in dem der verpönte Blick zurück gewagt werden kann, werden muss. Die Alten sind die Verlierer der Beschleunigungsgesellschaft, aber wenn die Ratlosigkeit um sich greift, wenn die Ortlosigkeit mit Schrecken wahrgenommen wird, wenn die Menschen merken, dass sie ohne Wurzeln, ohne Sinn leben und leben sollen, nur dem Spaß und der Konkurrenz verpflichtet: Dann ist die Stunde Null da, in der mit einem Mal die Alten nicht mehr nur als die grauen Mäuse wahrgenommen werden, die auf die Apotheken-Rundschau abonniert sind, sondern als Menschen, die sich an etwas erinnern, die in etwas leben, die von etwas wissen, das verloren zu sein schien.

Ich kann mich noch sehr genau an den Augenblick erinnern, in dem ich das – wie vom Blitz getroffen – verstanden habe: Dass unser gewohntes Bild von den Alten falsch ist. Es muss ganz und gar neu gemalt werden.

Denn wir sind blind und taub gegenüber den Fähigkeiten der Alten. Auch ignorant. Unsere Aufgabe ist es, diese verschütteten Fähigkeiten und Kenntnisse freizulegen, bevor sie verloren gehen. Es geht darum, an sie zu erinnern und ihre Bedeutung für unsere Zukunft ins Licht zu stellen. Und sie so vor dem Verschwinden zu retten.

Ich saß im Sand. In einem kleinen Dorf in Malawi, im warmen Herzen Afrikas. Mir gegenüber saß eine alte Frau, vielleicht 80 Jahre alt, nicht viel älter also als ich. Sie saß sehr aufrecht, ihre Beine hatte sie gerade ausgestreckt, und so redete sie mit mir, antwortete auf meine Forscherfragen. So harrten wir beide seit Stunden aus. Während des langen Gesprächs pflückte sie mit geübten Händen kleine Blätter von einem Zweig. Die Maisernte war schlecht ausgefallen, darum hungerte fast jeder im Dorf. Diese Blätter von dem Moringa-Baum sind eigentlich kaum genießbar, aber sie sind nun mal das Einzige, was jetzt zu finden ist, um die Schüssel Maisbrei mit etwas Geschmack anzureichern. Und so wuchs ein Berg aus grünen Blättern vor meinen Augen, er wuchs auf einem zuvor ausgebreiteten blauen Tuch. Ich war gebannt von der Schönheit dieser über lange Zeit geübten zupfenden Bewegungen. Ein ganzes Leben als bäuerliche Frau bildete sich in dieser Geste ab, eine Frau, die es versteht, eine große Familie zu versorgen. In dieser ruhigen, gewohnten Geste, mit der das Einfache und das Notwendige getan wurde, wird alle Kostbarkeit sichtbar, wenn man bereit ist, sie zu sehen. Und hier am Rande der Welt, in diesem abgelegenen malawischen Dorf, habe ich plötzlich begriffen, wie viel die Alten können. Sie hüten einen Schatz, von dem sie nichts wissen – und den die Jüngeren ignorieren: in ihren Gesten, in ihrem Umgang mit Zeit, im Umgang mit Ressourcen, mit Sprache, mit Schmerz, mit Altern, mit Geld. Die Alten bewahren Unwiederbringliches. Diese Fähigkeiten werden übersehen, denn sie sind verächtlich gemacht worden. Niemand interessiert sich für das Wissen der Alten. Akzeptiert sind sie, wenn sie sich dem Modischen unterwerfen. Akzeptiert sind sie, wenn sie leugnen, dass sie alt sind. Akzeptiert sind sie, wenn sie ihre Mobilität unter Beweis stellen und wenn sie sich als perfekte Konsumenten von Dienstleistungen erweisen. Das ihnen Eigene, ihre Bodenhaftung, ihre Lebenserfahrung gilt als grau und rückständig. So gesehen erscheinen sie als Modernisierungshindernisse, die verschwinden sollen, weil sie den Fortschritt aufhalten. Oder eben so gut es geht der Mode hinterherhasten.

In diesem Buch wird nicht von den Mimikry-Alten geredet, die bei jedem modischen Unsinn mitmachen, weil sie von der Hoffnung getrieben sind, dass sie dann als Abgelebte nicht auffallen. Die Rede soll also nicht von denen sein, die sich der Gewalt des Jugendwahns unterwerfen.

Der Spieß soll vielmehr umgedreht werden: Wie oberflächlich muss man eigentlich sein, um all den hektischen, substanzlosen, oberflächlichen Unsinn mitzumachen, dem wir ausgeliefert sind und dem wir uns ausliefern? Es gilt, die Widerspenstigen aufzusuchen, die vielleicht gar nicht wissen, dass sie widerspenstig sind. Es ist an der Zeit, von denen zu erzählen, die sich vom modischen Gerede nicht mitreißen lassen. Wir wollen die ins Licht stellen, die den Schatz des Eigenen hüten: in ihrem Garten, in ihrer Sprache, in ihren Gesten, in ihrem Weltverständnis, in ihrer Gelassenheit, in ihrem Sparbuch, in ihren Kochrezepten, in ihrer Sorgfalt im...

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