Kind der Aare - Autobiographie

Kind der Aare - Autobiographie

von: Hansjörg Schneider

Diogenes, 2018

ISBN: 9783257608779

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 1067 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kind der Aare - Autobiographie



Meine Mutter hieß ledig Hilda Riniker, wurde 1907 geboren und wuchs in Aarau auf.

Die Riniker sind in Schinznach Dorf heimatberechtigt, ein alteingesessenes Bauerngeschlecht. Offenbar ist vor Jahrhunderten ein Vorfahre aus dem nahen Riniken hierhergewandert, daher der Familienname.

Schinznach Dorf liegt am Eingang zum Schenkenbergertal knapp über der Aareebene, in der das wesentlich jüngere Schinznach Bad gebaut wurde. Das Schenkenbergertal steigt über Oberflachs und Thalheim zur Staf‌felegg hinauf. Auf halber Strecke steht auf einem Hügel die Ruine Schenkenberg, etwas unterhalb davon das Schloss Kasteln, das von den Bernern erbaut wurde. Das ganze Tal gehörte zum Untertanengebiet Berns und ist konfessionell reformiert.

Alle drei Dörfer leben teilweise vom Weinbau. Die Rebberge ziehen sich hinauf bis Thalheim, alte Trockenmauern aus Kalkstein, die den Sonnenhang terrassieren. Noch in meiner Jugend nannte man die Tage des Wimmets die Freinächte, da es während der Weinernte keine Polizeistunde gab. Kürzlich habe ich auf einer Liste der 25 besten Schweizer Weine gelesen, dass ein Pinot noir aus Thalheim auf Platz 14 steht.

Mein Großvater Friedrich Riniker ist in jungen Jahren nach Aarau ausgewandert, wo er auf dem Güterbahnhof eine Lebensstelle fand. Meine Mutter ist in Aarau geboren worden und aufgewachsen. Trotzdem betrachte ich das Dorf Schinznach als ihre Heimat. Noch immer, wenn ich in meinem kleinen Fiat aus dem Raum Aargau zurückfahre, biege ich ab von der Autobahn und kurve über die schmale Bergstraße durch die drei Dörfer auf die Staf‌felegg hinauf, wo ich einen Kaffee trinke. Die alten, kleinen Bauernhäuser entlang der Straße, in deren Ställen kaum mehr als neun Haupt Vieh Platz fanden, fünf Milchkühe, zwei Rinder, zwei Kälber. Gegen Süden hin die dunkel bewaldete Flanke der Gislif‌luh, im Norden die Weinberge im Spätsommerlicht, eine landschaftliche Schönheit ohnegleichen. Und dies gleich am Rande der Großagglomeration Zürich.

Auch über meine mütterliche Familie weiß ich nicht viel. Offenbar hat die Riniker Sippe genauso wenig Wert auf Familiengeschichte gelegt. Den Vornamen meiner Großmutter mütterlicherseits musste ich bei meiner Schwester erfragen. Sie hieß Anna Zulauf. Auch Zulauf ist ein alteingesessener Schinznacher Name.

Ich fühle mich als Riniker. Ich würde gern diesen Namen tragen.

Vor rund zwanzig Jahren hat mich der bekannte Filmer Paul Riniker angerufen. Er komme mich besuchen in Basel, er wolle von mir etwas über die Basler Universität wissen.

Als er vor mir stand, habe ich gestaunt und gesagt: »Riniker Schinznach.« »Woher weißt du das?«, hat er gefragt. »Ich sehe das an deiner Riniker-Nase«, habe ich geantwortet. Wir haben dann herausgefunden, dass wir Coucousins sind.

 

Mein Großvater Friedrich hat sich in Aarau an der Zelglistraße ein Haus bauen lassen. Ich habe keine Ahnung, womit er es bezahlt hat. In der Familie Riniker ist nie über Geld geredet worden. Es war, als würde Geld gar nicht existieren.

Meine Großmutter Anna hat wohl den großen Gemüsegarten angelegt. Sie starb, als meine Mutter ungefähr achtzehn war. Ich weiß nicht, woran. Meine Mutter hat es auch nicht gewusst. Sie hat erzählt, ihre Mutter sei eines Tages krank geworden und sei im Bett liegen geblieben. Man habe ihr Stöhnen gehört. Der Arzt sei gekommen, aber der habe auch nicht helfen können.

Dieser Ehe sind drei Töchter entsprossen und ein Sohn mit Namen Fritz. Dieser Fritz hatte ein trauriges Schicksal. Er war ein normaler, gescheiter Junge. Bis es mit ungefähr dreizehn Jahren zu hapern begann. Er hat zwar alle Gebirgspässe der Schweiz auswendig gewusst und dauernd aufgesagt, von wo bis wohin sie führten. Aber er kam im Unterricht plötzlich nicht mehr mit, man musste ihn aus der Schule nehmen. Die Begründung war, dass es nicht mehr gegangen sei. Er kam in ein Heim im Zürichbiet, wo es ihm aber nicht gefallen hat. Jedenfalls machte er sich zu Fuß auf den Heimweg und kam tatsächlich in der Zelglistraße an. Eine Zeitlang war er in der Irrenanstalt Königsfelden, bis ihn der Großvater nach Hause nahm. Dort blieb er bis zu seinem frühen Tod. Ich habe von ihm 2000 Franken geerbt. Ich war damals 22 Jahre alt und bin mit dem Geld nach Paris gefahren.

Von den drei Töchtern haben zwei das Lehrerinnenseminar Aarau besucht, nämlich Hanna und meine Mutter Hilda. Die dritte mit Namen Bertha hat die Handelsschule Aarau absolviert und ist dann Sekretärin bei Suchard in Serrières am Neuenburgersee geworden. Sie hat jeweils, wenn sie zu Besuch kam, Schokolade und Sugus mitgebracht. Hanna und Bertha sind ledig geblieben.

Nach dem Tod meiner Großmutter Anna ist mein Großvater nach Schinznach gefahren und hat eine neue Frau geholt. Sie hieß Ida Hirt und hat zum Garten und zu den vier Kindern der Anna geschaut. Sie hat einen Sohn namens Bernhard geboren, der Leiter einer Forschungsabteilung der Basler Chemie wurde. Er hat noch mit sechzig angefangen, mit einem Deltasegler herumzufliegen, und ist, wie er erzählt hat, von seinem Chalet im Berner Oberland aus bei gutem Aufwind oft und gern um Eiger, Mönch und Jungfrau herumgesegelt.

Als ich in Aarau die Kantonsschule besuchte, habe ich jeweils bei Großmutter Hirt zu Mittag gegessen. Damals wohnten dort Großmutter Hirt, Tante Hanna und Onkel Fritz. Tante Hanna war Lehrerin in Schinznach gewesen, bis sie frühpensioniert wurde, da es mit den großen, frechen Bauernjungen nicht mehr gegangen ist.

Eine sonderbare, unvergessliche Stimmung war in diesem Haus. Eine grüne Ofenkunst in der Stube, die von der Küche aus geheizt wurde. Ein Buffet mit Porzellan, das nie gebraucht wurde, hinter der Vitrine. Ein Kanapee. Irgendwo hing das Bild der ährenlesenden Jungfrauen. Ich glaube mich zu erinnern, dass Großmutter Hirt vor dem Essen jeweils gebetet hat, für Speis und Trank Gott sei Dank, oder ähnlich. Sie war winzig klein, wog kaum vierzig Kilo. Daneben die Tante und der Onkel, die beide fresssüchtig waren. Man musste dauernd aufpassen, dass Onkel Fritz nicht auch noch die Salatsauce austrank.

Diese Leute waren unaufdringlich fromm. Großmutter Hirt hat nie über ihren Glauben geredet. Aber man hat ihn bemerkt, an allen Ecken und Kanten. Ich würde diesen Glauben pietistisch nennen. Sie hatte ihren direkten Draht zum Herrgott, der alles wusste und alles sah.

Als meine Mutter im Zimmer, das wir Salon nannten und wo das Klavier stand, inmitten von Blumen tot aufgebahrt war, kam die winzige Großmutter Hirt von Aarau angereist, trat vor den Leichnam und sprach: »Aber auch, Hildi, was hast du gemacht.«

Tante Hanna hat dauernd geredet und erzählt, Geschichten und abwegiges Zeug aus Schinznach. Von Leuten, die plötzlich verschwanden und nicht mehr zum Vorschein kamen. Von Schwermut. Von Elise, der Schwester von Großmutter Anna, die sich im Tenn erhängt hatte. Von einer nicht näher bestimmten Verwandten, die in die Aare gegangen war. Von einem entfernten Onkel, der nur noch auf der Ofenbank saß und einen einzigen Satz wiederholte: »Wenn nur unsere Kuh nicht wäre.« Zwischendurch aber auch erfreuliche Geschichten wie jene von zwei verwandtschaftlich ebenfalls nicht näher bestimmten Burschen, die Trompete spielen konnten. Sie seien jeweils am Samstagnachmittag losmarschiert über die Jurahöhen nach Laufenburg am Rhein, um dort zum Tanz aufzuspielen. Sonntags seien sie gegen Mittag zurückgekommen. Und jeder habe einen Fünf‌liber im Sack gehabt.

Sie hatte in der guten Stube, die nur am 25. Dezember zu Ehren des Christkindes beheizt und benutzt wurde, ein Büchergestell stehen. Daneben war eine Couch. Ich habe mich nach dem Mittagessen immer auf diese Couch gelegt und Tante Hannas Bücher gelesen. Ich erinnere mich an den Roman Das einfache Leben von Ernst Wiechert, einem ostpreußischen Autor, der 1950 am Zürichsee gestorben ist. An die frühen Romane von Hermann Hesse. Und an die gesammelten Werke von Friedrich Nietzsche. Wie diese grün gebundenen Bände hierhergekommen waren, war mir ein Rätsel. Ich habe Tante Hanna nie danach gefragt. Aber es war offensichtlich, dass sie damit ein Verbot übertreten hatte. Das Verbot, sich selbständig und frech eigene Gedanken zu machen.

Ich habe angefangen mit dem Zarathustra, von dem ich schon gehört hatte. Ich habe mich weiter durchgekämpft durch mehrere Bände. Ich fürchte, ich habe nicht allzu viel verstanden. Ich hatte keine Ahnung, wie Nietzsche geistesgeschichtlich einzuordnen war, ich hatte null philosophische Vorbildung. Dennoch habe ich weitergelesen, durchglüht von Nietzsches Sprachkraft. Und etwas habe ich begriffen, dass man nämlich stürzen solle, was fallen will.

Als Großmutter Hirt gestorben war, ist Tante Hanna in ein kleines Altersheim an derselben Straße umgezogen. Sie hat dort eine Mansarde bewohnt. Ich habe sie mehrmals besucht. Ich habe auf ihrem Tisch Hemingways sämtliche Werke stehen sehen. Ich habe ihr meine ersten Bücher gebracht, sie hat auch die gelesen.

Dann hat ihr die Heimleitung mitgeteilt, dass sie in ein Pflegeheim umziehen müsse. In der Nacht vor diesem Umzug ist sie im Schlaf gestorben.

Sie hat meinem Bruder den Fernkurs bezahlt, mit dem er sich auf die Aufnahmeprüfung ans Technikum Biel vorbereitet hat. Als A. und ich geheiratet haben und wenig Geld hatten, hat sie uns die Hälf‌te ihrer AHV überwiesen. Und zwar nicht etwa an mich, sondern direkt an A.

Sie hat mich stets Jöggu genannt.

 

In jenen Jahren, als Tante Hanna Lehrerin in Schinznach war, bin ich oft...

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