Magnolienschlaf - Roman

Magnolienschlaf - Roman

von: Eva Baronsky

Aufbau Verlag, 2011

ISBN: 9783841202406

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 550 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Magnolienschlaf - Roman



Nur allmählich spürt Wilhelmine, dass sie aufsteigt aus der warmen Schwere des Schlafs, will weiter hinabtauchen in das Dunkel, empfindet dieses schwache Sehnen und ahnt kaum, wonach. Je älter sie wird, desto mehr hat sie das Gefühl, ein Fisch zu sein, fühlt sich nur noch in jenen Tiefen wohl, in denen Träume und Erinnerungen schwebend treiben. Was über der Wasseroberfläche passiert, geschieht ihr zu rasch, zu laut, wird ihr zunehmend fremd.

So gemächlich es geht, lässt Wilhelmine sich nach oben gleiten, bemerkt erst Harndrang, dann die Kälte im Zimmer. Ohne die Augen zu öffnen, weiß sie, dass noch kein Dämmerlicht das Muster der Vorhänge erkennen lässt.

Sie ist allein. Mittlerweile kann sie spüren, ob sich jemand im Haus befindet. Sie ist gern allein, eigentlich. Früher waren ihr diese Morgenstunden kostbar, jene stille Zeit gegen fünf, sechs Uhr, wenn der Tag noch ganz ihr gehörte und sie mit einer Tasse Tee und einem Buch wieder zurück in ihr Bett gekrochen ist, bis die Sonne ins Zimmer brach, meist viel zu bald. Nun, da sie nicht einmal mehr aufstehen kann, um zur Toilette zu gehen, wird dieser Reichtum zur Qual. Wann ist es endlich genug?

Wenn Karin nur käme. Sie muss sie bitten, nach der Heizung zu sehen. Es dauert viel zu lange, bis es morgens im Zimmer warm wird. Das war doch früher nicht so. Wenn sie es nur nicht vergisst, Karin ist immer so rasch wieder fort. Sie habe keine Zeit, sagt sie. Natürlich hat Karin Zeit, reichlich Zeit.

Wilhelmine zieht die Decke höher. Liebe heißt geben, ohne etwas dafür zu erwarten. Wilhelmine erwartet nichts. Sie käme liebend gerne allein zurecht. Das Alleinsein schreckt sie nicht, beileibe nicht.

Sie dreht sich behutsam auf den Rücken, fühlt eine dicke Wulst zwischen ihren Beinen. Ach Gott, ja, die verdammte Windel. Beißend steigt Scham in ihr auf, sie mag sich nicht daran gewöhnen, an diese widerlichen Dinger, obwohl sie kaum zu spüren sind. Sie braucht sie doch gar nicht; es einfach laufen zu lassen, das bringt sie ohnehin nicht fertig.

Wilhelmine atmet lange aus, tastet mit der Hand nach dem wattigen Paket, in das Karin sie gepackt hat und das sich anfühlt wie die dicken Umschläge, in denen Monika ihr manchmal Bücher hat zukommen lassen. Ihre Finger finden eine dünne Kante, einen biegsamen Streifen, gedankenverloren nestelt Wilhelmine daran herum, bis er sich löst. Ach herrje, das muss der Verschluss gewesen sein, rasch versucht sie, den Klebestreifen wieder festzudrücken, es gelingt ihr nicht, stattdessen liegt die rechte Hüfte jetzt bloß.

Unten wird die Haustüre geöffnet. Das ist Karin. So wirft nur sie den Schlüsselbund auf ihre Handtasche. Wilhelmine hat noch immer gute Ohren. Wenn du mal stirbst, Minchen, hat Albert oft gescherzt, dann muss man dir die Lauscher separat totschlagen. Ach, der Albert. Gute Augen wären ihr lieber, die kann man notfalls zuklappen.

Wilhelmine blinzelt, sieht zum Fenster, es ist noch dunkel, Karin kommt normalerweise nie so früh. Ein wenig unmutig über diese ungewohnte Zeit ist sie schon, aber gleichzeitig froh, nun wird sie sich endlich erleichtern können. Wilhelmine wartet auf das Knarren der Treppe, doch sie hört Karin nur in der Küche rumoren, die Wasserleitung rauscht. Schließlich tastet sie über die Matratze und zieht das dünne Kabel aus der Bettritze, bis sie die kleine, pilzförmige Klingel zu fassen bekommt. Die Leitung hat sie legen lassen, als Albert damals krank wurde.

Jetzt drückt Wilhelmine den Knopf, dreimal hintereinander: ›Guten – Morgen – Karin‹, grüßt sie feste in die Leitung hinein.

Kurz darauf klopfen Schritte auf der Treppe, das Türblatt schabt über den Veloursboden, und das Licht der Deckenleuchte nimmt ihr für einen Moment die Sicht.

»Einmal reicht vollkommen, Tante Minchen, ich bin ja nicht schwerhörig!«

Wilhelmine schweigt, wartet, bis Karin die Vorhänge aufgezogen hat, irgendetwas wollte sie doch von ihr, aber sie kommt nicht darauf, was es war.

»Wieso bist du denn schon wach, Tante Minchen? Es ist erst halb sieben.«

Ich bin immer wach um diese Zeit, denkt Wilhelmine, aber vielleicht sollte sie Karin das nicht sagen, die hört sonst wieder einen Vorwurf heraus. »Es ist gut, dass du da bist«, erwidert sie stattdessen und fügt leise hinzu: »Ich kann das Wasser bald nicht mehr halten.«

»Das brauchst du doch auch nicht.« Karin tritt zu ihr ans Bett, sie kaut die Worte, als spräche sie zu einer Taubstummen. »Ich hab dir doch was angezogen.«

»Ach ja …« Wilhelmine nickt zaghaft und fühlt mit der Hand ihre Hüfte entlang. »Ich möchte aber doch auf den Stuhl. Sei so gut, und mach die Vorhänge wieder zu, ja.«

»Tante Minchen, es ist kein Mensch auf der Straße um diese Zeit und durch das Gestrüpp kann sowieso niemand durchsehen.«

Karin zieht die Vorhänge zu und rückt den Toilettenstuhl ans Bett.

»Meine Güte, was hast du denn gemacht? Die ganze Windel aufgerissen, ach Mensch, Minchen, was soll denn das?« Unbeherrscht ratscht Karin noch den zweiten Klebestreifen auf und zerrt die Windel unter Wilhelmine hervor.

»Warum bist du denn schon so früh auf den Beinen?«, fragt Wilhelmine leise. »Kommst doch sonst erst um acht.« Sie klammert sich an Karins Arm und führt behutsam die Beine über die Bettkante.

»Heute kommt das Mädchen, Tante Minchen, das hab ich dir doch erklärt. Der Dieter ist gerade nach Frankfurt gefahren und holt sie vom Busbahnhof ab.«

»Ach ja …« Wilhelmine sackt auf den Stuhl und wartet, bis Karin ins Bad gegangen ist. Erst dann erleichtert sie sich.

Das Mädchen. Mit einem Mal ist ihr kalt und eng in der Brust. Sie erinnert sich an die Jugoslawin, die Karin ihr unlängst zum Putzen ins Haus geschickt hat und die ihr die Windeln wechseln wollte, dabei hätte sie Wilhelmine bloß auf den Stuhl helfen müssen. Aber die Frau hat nichts verstanden.

Sie überlegt, was das für ein Mädchen ist, das da kommen soll, wagt aber nicht zu fragen, sie wird es schon erfahren.

Dass sie Karin lästig fällt, hört Wilhelmine am Ton. Karin gibt sich wenig Mühe, es zu verstecken, vielleicht will sie es überhaupt nicht. Oft ist es nur ein winziger Zug um Karins Mund oder eine Nuance im Tonfall, die Wilhelmine ins Herz schneidet. Sie wollte nie in ihrem Leben jemandem lästig fallen. Aber wie das wirklich ist, weiß sie erst, seit sie nichts mehr daran ändern kann. Einsam macht es, so einsam, als säße sie allein auf einer Insel, noch in Sichtweite der Küste, wo die anderen stehen und versuchen, sich vor dieser Pflicht zu drücken. Dieter lässt sich auch nicht blicken. Das tut weh. Aber Wilhelmine wird schweigen, sich still wieder ins Bett helfen lassen und warten, warten, warten. Was kann sie anderes tun?

»Soll ich dir schon was zum Essen machen?«

»Ach nein, lieber später, ich hab ja doch noch keinen Appetit.«

Karin brummt etwas von Wäsche und Keller und verschwindet.

Wilhelmine lauscht auf Karins Schritte, hört, wie sie die Tür zur Kellertreppe entriegelt. Auf Alberts Kopfkissen liegt noch die Illustrierte von gestern, in der Wilhelmine zu blättern beginnt. Sie hätte Karin um eine schöne Tasse Tee bitten sollen, dann hätte es fast wie früher sein können. Wilhelmine sieht sich um. Das Wasserglas auf dem Nachttisch ist leer. Nicht dass sie Durst hätte, aber normalerweise schenkt Karin ihr immer Wasser ein.

Wilhelmine zögert. Sie kann die Wasserflasche neben dem Nachttisch stehen sehen. Vorsichtig robbt sie an die Bettkante und streckt den Arm aus. Es fehlt nur ein halber Meter. Vielleicht kann sie ja doch aufstehen, irgendwann muss sie es ja mal versuchen, das wird wohl zu schaffen sein. Vorsichtig, Stück für Stück, dreht sie sich auf den Bauch, lässt das rechte Bein aus dem Bett gleiten, bis ihre Zehen das Frotteetuch berühren, das immer über dem Teppich liegt. Sie greift nach der Nachttischkante, erst mit der rechten, unsicher, dann mit der linken Hand, aber die Kraft in den Armen reicht nicht, um sie zu stützen. Das Bein sackt weg, für einen Moment kniet sie auf dem Teppich, versucht vergeblich, sich am Nachttisch festzuklammern, und rutscht mit dem linken Bein von der Bettkante herab. Unsanft schlägt sie mit der Hüfte auf, hält sekundenlang den Atem an, wartet auf den scharfen Schmerz, doch diesmal scheint nichts passiert zu sein. Erleichtert atmet Wilhelmine auf, liegt mit klopfendem Herzen am Boden und schaut unter den Bettrahmen, wo sich ein paar zerknüllte Papiertaschentücher versteckt halten. Wenn nur Karin jetzt nicht kommt und sie so findet. Sie angelt nach der Wasserflasche und stellt sie in Griffweite neben das Bett. Nun muss sie bloß wieder...

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