Meine geniale Freundin - Roman

Meine geniale Freundin - Roman

von: Elena Ferrante

Suhrkamp, 2016

ISBN: 9783518747971

Sprache: Deutsch

422 Seiten, Download: 5701 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Meine geniale Freundin - Roman



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Wahrscheinlich war das meine Art, mit Neid und Hass umzugehen und beides zu unterdrücken. Oder vielleicht verschleierte ich auf diese Weise mein Gefühl der Unterlegenheit, die Faszination, der ich unterworfen war. Auf jeden Fall übte ich mich darin, Lilas Überlegenheit auf allen Gebieten bereitwillig zu akzeptieren, und auch ihre Schikanen.

Zudem verhielt sich unsere Lehrerin sehr umsichtig. Zwar ließ sie Lila oft neben sich sitzen, doch sie schien das eher zu tun, um sie ruhigzustellen, als um sie zu belohnen. Eigentlich lobte sie fortwährend Marisa Sarratore, Carmela Peluso und vor allem mich. Sie ließ mich in einem hellen Licht erstrahlen, spornte mich an, immer disziplinierter, immer fleißiger, immer scharfsinniger zu werden. Wenn Lila ihre Aufsässigkeit aufgab und mich mühelos überholte, zollte Maestra Oliviero zunächst mir eine maßvolle Anerkennung und lobte dann sie in den höchsten Tönen. Die Bitterkeit der Niederlage empfand ich am stärksten, wenn Marisa oder Carmela mich überflügelten. Wenn ich dagegen die Zweite hinter Lila wurde, zog ich eine Miene milden Einverständnisses. Ich glaube, in jenen Jahren fürchtete ich nur eines: in der von Maestra Oliviero aufgestellten Hierarchie nicht mehr mit Lila in Verbindung gebracht zu werden, die Lehrerin nicht mehr mit Stolz sagen zu hören: Cerullo und Greco sind die Besten. Hätte sie eines Tages gesagt: Cerullo und Sarratore sind die Besten, oder Cerullo und Peluso, ich wäre auf der Stelle tot umgefallen. Daher verwendete ich alle meine Kräfte eines kleinen Mädchens nicht darauf, Klassenbeste zu werden – dieses Ziel hielt ich für unerreichbar –, sondern darauf, nicht auf den dritten, auf den vierten oder auf den letzten Platz abzurutschen. Ich widmete mich dem Lernen und vielen anderen schwierigen Dingen, die mir fernlagen, nur um mit diesem schrecklichen, strahlenden Mädchen Schritt halten zu können.

Strahlend war sie für mich. Für alle anderen Schüler war Lila nur schrecklich. Von der ersten bis zur fünften Grundschulklasse war sie durch die Schuld des Direktors und ein wenig auch wegen Maestra Oliviero das unbeliebteste Mädchen in der Schule und im Rione.

Mindestens zweimal im Jahr ordnete der Direktor einen Wettstreit der Klassen untereinander an, um die besten Schüler und damit auch die fähigsten Lehrer zu ermitteln. Maestra Oliviero gefiel dieser Wettbewerb. Im ständigen Streit mit ihren Kollegen, bei denen sie manchmal offenbar kurz davor war, handgreiflich zu werden, benutzte unsere Lehrerin Lila und mich als leuchtendes Beispiel dafür, wie gut sie war, die beste Lehrerin in der Grundschule unseres Viertels. So kam es oft vor, dass sie uns auch außerhalb der vom Direktor angeordneten Termine in andere Klassen brachte, damit wir gegen andere Kinder antraten, Mädchen und Jungen. Ich wurde für gewöhnlich vorgeschickt, um den Leistungsstand des Feindes zu sondieren. Im Allgemeinen gewann ich, doch ohne zu übertreiben, ich beschämte weder die Lehrer noch die Schüler. Ich war ein blondlockiges, niedliches Mädchen und froh darüber, zu zeigen, was ich konnte, doch ich war nicht dreist, ich vermittelte den Eindruck rührender Zartheit. Wenn ich dann die Beste darin war, Gedichte und das Einmaleins aufzusagen, Division und Multiplikation anzuwenden und die Seealpen, die Kottischen Alpen, die Grajischen Alpen, die Penninischen Alpen und so weiter aufzuzählen, strichen mir die anderen Lehrer trotzdem übers Haar, und die Schüler merkten, wie viel Mühe es mich gekostet hatte, dieses ganze Zeug auswendig zu lernen, weshalb sie mich nicht hassten.

Anders verhielt es sich mit Lila. Schon in der ersten Klasse stand sie außerhalb jeder möglichen Konkurrenz. Unsere Lehrerin sagte sogar, mit ein bisschen Anstrengung könnte sie sofort die Prüfungen der zweiten Klasse ablegen und mit nicht einmal sieben Jahren in die dritte Klasse gehen. In der Folgezeit vergrößerte sich der Abstand noch. Lila löste hochkomplizierte Rechenaufgaben im Kopf, in ihren Diktaten war nicht der kleinste Fehler, sie sprach immer Dialekt wie wir alle, doch bei Bedarf holte sie ein papierenes Italienisch hervor und griff auch zu Wörtern wie gewohnt, üppig und herzlich gern. Wenn also unsere Lehrerin sie ins Feld schickte, um die Modi und Tempora der Verben aufzusagen oder Denkaufgaben zu lösen, wurde jede Möglichkeit wegkatapultiert, gute Miene zu bösem Spiel zu machen, die Gemüter verfinsterten sich. Lila war für jeden zu viel.

Sie ließ keinerlei Raum für Sympathie. Ihr großes Können anzuerkennen, hieß für uns Kinder zuzugeben, dass wir es nie schaffen würden und jeder Kampf zwecklos war, und für die Lehrer und Lehrerinnen bedeutete es, sich einzugestehen, dass sie nur durchschnittliche Kinder gewesen waren. Lilas geistige Behendigkeit hatte etwas von einem Zischen, einem Vorschnellen, einem tödlichen Biss. Und nichts in ihrer Erscheinung wirkte als Ausgleich dagegen. Sie war ungepflegt, schmutzig und hatte von Verletzungen, die nie rechtzeitig heilten, stets verschorfte Knie und Ellbogen. Ihre großen, äußerst lebhaften Augen konnten zu schmalen Schlitzen werden, aus denen vor jeder glänzenden Antwort ein Blick hervorblitzte, der nicht nur wenig kindlich wirkte, sondern vielleicht nicht einmal menschlich. Jede ihrer Bewegungen verriet, dass es nicht ratsam war, ihr wehzutun, denn egal, wie die Dinge sich dann entwickeln mochten, sie würde eine Möglichkeit finden, dir noch mehr wehzutun.

Der Hass war deutlich spürbar, ich fühlte ihn. Sowohl die Mädchen als auch die Jungen waren sauer auf sie, die Jungen allerdings unverhohlener. Maestra Oliviero genoss es nämlich aus Gründen, die nur ihr bekannt waren, uns vor allem in die Klassen zu bringen, in denen man nicht so sehr Schülerinnen und Lehrerinnen als vielmehr Schüler und Lehrer besiegen konnte. Auch der Direktor hatte aus Gründen, die nun wiederum nur ihm bekannt waren, eine Vorliebe für Wettkämpfe dieser Art. Später argwöhnte ich, dass in der Schule bei unseren Wettkämpfen um Geld gewettet wurde, vielleicht sogar um viel Geld. Doch das war zu hoch gegriffen. Vielleicht waren sie nur ein Mittel, alten Verstimmungen freien Lauf zu lassen oder es dem Direktor zu ermöglichen, die weniger guten oder weniger gehorsamen Lehrer im Zaum zu halten. Jedenfalls wurden wir zwei, die wir damals erst in die zweite Klasse gingen, eines Morgens in eine vierte Klasse gebracht, in die Vierte von Maestro Ferraro, in die Enzo Scanno, der freche Sohn der Gemüsehändlerin, ging und auch Nino Sarratore, Marisas Bruder, den ich liebte.

Enzo kannte jeder. Er war ein Sitzenbleiber und mehrmals mit einem Schild um den Hals durch die Klassen geschleift worden, auf das Maestro Ferraro, ein langer, dürrer Mann mit grauem Bürstenhaar, einem scharf geschnittenen Gesichtchen und unruhigen Augen, Esel geschrieben hatte. Nino dagegen war so gut, so sanft und so still, dass fast nur ich ihn kannte. Natürlich war Enzo unter null, schulisch betrachtet, und wir behielten ihn nur im Auge, weil er schnell handgreiflich wurde. Unsere Gegner auf dem Gebiet der Intelligenz waren Nino und – das entdeckten wir erst jetzt – Alfonso Carracci, Don Achilles dritter Sohn, ein sehr gepflegter Junge, aus der Zweiten wie wir, der für seine sieben Jahre ausgesprochen klein war. Es war offensichtlich, dass der Lehrer ihn in die vierte Klasse geholt hatte, weil er ihm mehr zutraute als dem fast zwei Jahre älteren Nino.

Wegen Alfonso Carraccis unvorhergesehener Beteiligung gab es einige Spannungen zwischen Maestra Oliviero und Maestro Ferraro, dann begann der Wettstreit vor den in einem Raum versammelten Klassen. Man fragte die Verben ab, man fragte das Einmaleins ab, man fragte die vier Grundrechenarten ab, zunächst an der Tafel, dann im Kopf. Von diesem außergewöhnlichen Ereignis sind mir drei Dinge im Gedächtnis geblieben. Erstens schlug mich der kleine Alfonso Carracci sofort aus dem Feld, er war ruhig und treffsicher, doch es tat gut, dass er nicht schadenfroh war. Zweitens beantwortete Nino Sarratore zu unserer Überraschung fast keine der Fragen, er wirkte verstört, als verstünde er nicht, was die zwei Lehrer von ihm wollten. Drittens hielt Lila Don Achilles Sohn gelangweilt stand, als interessierte es sie nicht, dass er sie besiegen könnte. Es kam erst Leben in die Szene, als man zum Kopfrechnen überging, Additionen, Subtraktionen, Multiplikationen, Divisionen. Trotz der Lustlosigkeit Lilas, die manchmal schwieg, als hätte sie die Frage nicht gehört, begann Alfonso zurückzufallen, vor allem bei der Multiplikation und bei der Division machte er Fehler. Doch obwohl er nachließ, war auch Lila ihm nicht gewachsen, und so stand es mehr oder weniger unentschieden. Da geschah etwas Unerwartetes. Mindestens zweimal, als Lila nicht antwortete oder Alfonso einen Fehler machte, ertönte aus den hinteren Bankreihen verächtlich die Stimme von Enzo Scanno, der das richtige Ergebnis sagte.

Die Schüler, die Lehrer, der Direktor, Lila und ich waren sprachlos. Wie war es möglich, dass einer wie Enzo, ein lustloser Taugenichts und Rabauke, komplizierte Rechenaufgaben im Kopf besser lösen konnte als ich, als Alfonso Carracci, als Nino Sarratore? Jetzt schien Lila aufzuwachen. Alfonso war nun schnell aus dem Spiel, und mit dem stolzen Einverständnis des Lehrers, der prompt seinen Spieler auswechselte, begann ein Duell zwischen Lila und Enzo.

Die beiden lieferten sich ein langes Kopf-an-Kopf-Rennen. Irgendwann rief der Direktor, der damit den Lehrer überging, den Sohn der Gemüsehändlerin nach vorn ans Pult, neben Lila. Unter nervösem Gekicher, in das seine Kumpane einstimmten, verließ...

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