Kindheit in der Schweiz. Erinnerungen

Kindheit in der Schweiz. Erinnerungen

von: Erwin Künzli

Limmat Verlag, 2015

ISBN: 9783038550365

Sprache: Deutsch

232 Seiten, Download: 1555 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kindheit in der Schweiz. Erinnerungen



1908, Val d’Anniviers VS


Adeline Favre


Ich wurde an einem 22. Mai geboren. Mama war an jenem Tag ganz allein zu Hause, denn mein Vater war ins Tal hinunter gegangen, um nach den Reben zu sehen. Im Tal unten war ein halber Meter Schnee gefallen, eher ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Wie alle Leute aus dem Val d’Anniviers hatten auch wir in der Gegend von Sierre, in ­Niouc, unsere Reben. Sie waren für uns fast die einzige Quelle für Bargeld, und eine Naturkatastrophe brachte schwe­re finanzielle Folgen für das kommende Jahr. Nun hatte Papa in diesem Jahr vorgearbeitet und die Reben schon frühzeitig aufgebunden. Dies im Hinblick auf meine bevorstehende Geburt: Er wollte zu Hause sein, wenn er benötigt wurde. Als er an diesem 22. Mai den Schnee sah, stieg er sofort ins Tal hinunter, um den Schaden an den Reben festzustellen. Es zeigte sich übrigens, dass er nicht so gross war wie bei den Nachbarn. Papa hatte auch die Kühe hinuntergetrieben, damit sie die abgebrochenen Zweige fressen konnten, die er auf dem Rücken des Maultiers bis nach Niouc gebracht hatte. Hierher trug man auch die dürren Rebenblätter, die man mit Heu mischte und den Kühen zu fressen gab.

So musste mich Mama an jenem 22. Mai allein zur Welt bringen. Zudem wurde ich in Steisslage geboren. Die Hebamme, Madame Pont, eine Cousine von Mama, sagte zu ihr: «Ich kann dir nicht helfen, du musst es ganz allein fertigbringen. Ich kann dir nicht helfen …» Sie betete in einer Ecke des Zimmers, und Mama presste.

Madame Pont war verzweifelt, dass sie nicht helfen konnte. Zu ihren Gunsten muss man sagen, dass die Hebammen damals nicht vorbereitet waren auf Komplikationen und dass ihnen die medizinischen Kenntnisse, die mir später zugute kamen, fehlten. Sie taten ihr Bestes mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Oft allerdings blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu beten …

Weil Papa nicht da war, holte Madame Pont voller Angst ihren Mann zu Hilfe. Es geschah oft, dass der Ehemann der Hebamme zur Hand ging. Monsieur Pont war Schuhmacher. Mama hat uns später oft erzählt, wie sie sich um seinen Hals geklammert hatte, um besser pressen zu können. Ich war offenbar ein recht grosses Bébé, das achte und das erste der zweiten Hälfte von vierzehn Kindern.

1939, Meggen LU


Otto Scherer


Kaum auf der Welt, da ging der Teufel los. Der Vater und der Karrer mussten einrücken. Die beiden Pferde und ein Wagen wurden eingezogen. Der Melker schirrte den Zuchtstier und eine Kuh ein und versuchte, den widerspenstigen Viechern das Fuhrwerken beizubringen. Joch und Geschirr waren noch oben in der Remise geblieben vom Ersten Krieg.

1939. August, September, Oktober. Die Ernte war in vollem Gang. Oder eben nicht. Das Emd verfaulte draussen im Regen, die Kartoffeln warteten darauf, eingebracht zu werden. Das Mostobst sollte auf- und das Tafelobst abgelesen werden. Arbeit, wohin man schaute. Und zu wenig Hände, die zupacken konnten.

Wohl hatten die im Dorf einquartierten Truppen die Bauern und Knechte unter ihren Soldaten auf die Höfe zum Helfen abkommandiert. Aber im Eiholz fehlte der Meister. Dieser grub als Artillerie­kanonier hinter der Grenze Haubitzenstellungen aus, übte den Gewehrgriff, das Marschieren in Zweier-, Vierer- und Achterkolonne, das Zerlegen und Zusammenbauen der Waffen, das Schiessen. Aber auch das Faulenzen. Das war von allem beinahe das Schlimmste, denn er wusste von der Lücke, die er zu Hause hinterliess. Er ging fast drauf vor Sorge um Hof und Familie. Wer sollte jetzt dort das Zepter führen? Der gebrechliche, aber immer noch resolute Grossvater, der Karrer oder der Melker? Wohl jeder gegen jeden. Alles gehe drunter und drüber, hatte ihm Mutter geschrieben. Keiner pariere, keiner setze sich durch.

«D’Allmänd abhaue!»

«Domms Züg! Zerscht tömmer s’Chlöschterli ine!»

«Ich go met em Meieriesli zom Schtier!»

«Morn, hani gseit! Herrgottsakramänt!»

«Nei, hött sägi! Schtärne feufi nomol!»

«Ich be vor dier im Eiholz gsii.»

«Jetz losed emol.»

Klein, energisch, kaum dreissig Jahre alt, seit zwei Jahren erst auf dem Hof, stellte sich die Mutter zwischen die Riesen. Sie, die den grossen Haushalt zu führen hatte, musste zusätzlich auch noch zwischen drei oder vier Hitzköpfen schlichten.

Jetzt bestimmte sie die Richtung: «I d’Allmänd, ond zwar alli zäme. Klar? Oder hed no öpper e Frog?» Zu ihrem eigenen Erstaunen hatte ihr Auftritt Erfolg.

Aber da waren auch ihre Ängste: Sie könnte ihrer neuen Aufgabe nicht gewachsen sein, der Krieg könnte auf das Land übergreifen, ihr Mann könnte umkommen. Da war Lisbeth, die einjährige Tochter, und da war ich, der Säugling und Stammhalter, der Vaters Namen trug und der sich nicht entscheiden konnte, ob er leben oder sterben wollte.

Mutter hätte zerbrechen können. Aber sie hatte es geschafft. Wir hatten es beide geschafft. Die Knechte nannten sie Meisterin.

1889, Vevey VD


Aline Valangin


Das Kind würde ein schöner Knabe werden, klug und rasch und in allem ganz anders als der Vater. Es würde ihr Freund werden und alles ersetzen, was sie in Brüche gehen sah. Ja, das Kind.

Fast ist sie daran gestorben. Der Mann hatte sich nicht die Mühe genommen, in seiner grossen Trägheit nachzudenken, dass die Geburt eine schwere schwere Stunde für die Frau ist. Die erste beste Hebamme wurde bestellt. Sie erschien betrunken. Die Geburt dauerte zwei Tage und drei Nächte, und die ganze Zeit über war die trinkende und ständig angeheiterte Frauensperson um meine Mutter als einzige Hülfe. Sie schrie, in grösserer seelischer Not noch als in körperlicher, obschon die physische Qual längst unerträglich war; sie schrie zum Himmel, er möge das Kind aus ihrem Leibe erlösen; sie schrie, sie brüllte, als die Schmerzen stiegen und unendlich sich ausdehnten, dass nichts als eine Hölle der Pein um sie war, das Kind möge unverletzt bleiben, es möge leben. Sie bäumte sich gegen die Schatten, die nach ihr griffen, gegen die Schwäche, die überhand nahm, und immer wieder schrie sie ihre Bitte um Erlösung. Langsam fing sie an, in Nacht zu tauchen. Seltsam war das. Sie wollte doch leben, aber etwas wollte nicht, dass sie lebe. Sie staunte. Müsste sie vielleicht sterben? Und ein Nein in ihr geschrien als Antwort. Und wieder beginnt der Kampf. Aber lahmer. Und wieder so eine Nacht und daraus eine Frage behalten: Wohl muss sie sterben? Oh, das schöne Leben. War es schön? Ja früher und jetzt … das Kind. Schrei um Schrei. Das Kind darf nicht sterben, auch nicht allein bleiben; also muss auch sie leben. Leben. Nicht dein Wille geschehe, nein, oh, bitte nein, nicht der deine. –

Und das Kind wurde geboren, mit ganz verschobenen Schädeldecken und einem Schopf braunen Haares. Es war ein braunes Mädchen. Ich.

1939, Zürich


Jeannot Bürgi


Ich war meinen leiblichen Eltern kein Wunschkind. Mit dieser Feststellung und Erkenntnis bin ich sicher nicht allein, kein Sonderfall. Trotzdem, eine Frage beschäftigte mich ein Leben lang: Warum hat mich meine Mutter ausgesetzt, in einer Kartonschachtel beim Müll am Strassenrand entsorgt? Ich dachte, ich sei schon längst darüber hinweg, es mache mir überhaupt nichts aus, darüber zu sprechen, nachzudenken. Jetzt entdecke ich, nachdem ich siebzig Jahre alt geworden bin und ein ganzes, reiches Leben hinter mir habe, dass es mir noch immer etwas ausmacht, dass da noch immer die Frage im Raum steht, dieses «Warum», auf das ich bis zum heutigen Tag keine Antwort gefunden habe.

Meine Erklärung ist einfach und auf der Hand liegend: Ich war ihr Last und Störung, ich passte nicht in ihr Leben, sie hatte sich das so nicht vorgestellt. Ein Gof, das fehlte gerade noch, damals Ende der dreissiger Jahre, mitten in Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, mit dem Krieg vor der Tür. Das Leben damals war schon allein schwer genug, ein Kind ein Esser mehr, eine Sorge dazu, ein Hindernis, Verantwortung und Kosten. Sie musste über die Runden kommen, Anschaffen hiess das in ihrem Fall, für sich und wahrscheinlich auch für ihren Zuhälter. Sicher war sie jung, leichtsinnig und oberflächlich, schliesslich war es ihr egal, was mit dem geschah, was sie da in die alte Schachtel stopfte. Abfall eben, den man los sein will.

1951, Basel


Urs Schaub


Fürs Erste, was ich tat, als ich auf die Welt kam, war ich zwar nicht verantwortlich, aber ich tat es gründlich: Ich enttäuschte meinen Vater.

Sein Herzenswunsch war eine Tochter. Sogar wie sie heissen sollte, war längst ausgemacht. Warum sich allerdings ausgerechnet jener Name in seiner Seele eingenistet hatte, war aus ihm nie herauszubringen gewesen. Hatte er ein Pin-up der nationalen Schönheit gesehen, deren internationale Filmkarriere kurz nach meiner Geburt begann? Wie auch immer: Aus traditionellen Gründen war ebenso klar, dass zwei Kinder genügen mussten, es also auch in Zukunft für den geliebten Namen keine Verwendung mehr geben würde. Basta und aus. Kurzerhand wurde der Name um seinen weiblichen Teil amputiert, und die übrig gebliebenen drei Buchstaben wurden zu meinem Namen. Ein hierzulande sehr verbreiteter Name, der im Ausland – zumindest in zwei von vier Himmelsrichtungen – nicht besonders gut auszusprechen war. Mir hätten die drei abgeschnittenen Buchstaben besser gefallen. Vor allem in meiner Indianerphase wären mir diese mythisch klingenden drei Buchstaben unbedingt willkommen gewesen.

1878, Trimmis GR


Paul Thürer


Ich wurde geboren am 17. Juli 1878 als erstes von vier Kindern des Bauers...

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