Empörung - Roman

Empörung - Roman

von: Philip Roth

Carl Hanser Verlag München, 2015

ISBN: 9783446251274

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 3485 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Empörung - Roman



Sonny Cottler stand vor mir in ganz ähnlichen Sachen, wie ich sie trug, nur dass sein Pullover kein normaler brauner war, sondern ein braungrauer mit dem Schriftzug Winesburg auf der Brust, den er als Mitglied der College-Basketballmannschaft bekommen hatte. Das auch. Die Ungezwungenheit, mit der er seine Kleider trug, fügte sich harmonisch zu seiner tiefen Stimme, die vor Souveränität und Selbstbewusstsein nur so strotzte. Die ruhige, sorglose Vitalität und das Gefühl von Unverletzlichkeit, das er ausstrahlte, das waren Eigenschaften, die mich gleichzeitig abstießen und anzogen, vielleicht weil es mir, ob zu Recht oder Unrecht, so vorkam, als stecke dahinter so etwas wie Hochnäsigkeit. Dass er keinerlei Fehler zu haben schien, machte auf mich seltsamerweise den Eindruck, als habe er in Wirklichkeit so gut wie alle Fehler. Andererseits mochte dieser Eindruck nur die Folge von Neid und Ehrfurcht eines jungen Collegestudenten sein.

»Natürlich«, antwortete ich. »Klar. Setz dich.«

»Du siehst völlig fertig aus«, sagte er.

Er hingegen sah natürlich aus, als habe er bei MGM gerade eine Szene mit Ava Gardner abgedreht. »Der Dean hat mich zu sich bestellt. Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit. Eine Auseinandersetzung.« Halt den Mund!, sagte ich mir. Wozu ihm das erzählen? Aber ich musste es doch jemandem erzählen, oder? Ich musste mit jemandem reden, und Cottler war nicht unbedingt schon deshalb ein schlechter Mensch, weil mein Vater veranlasst hatte, dass er mich auf meinem Zimmer besuchte. Jedenfalls fühlte ich mich von allen hier so falsch verstanden, dass ich womöglich mein Gesicht gen Himmel erhoben und wie ein Hund geheult hätte, wenn er nicht zufällig vorbeigekommen wäre.

So ruhig ich konnte, erzählte ich ihm von meiner Kontroverse mit dem Dean über den Besuch des Gottesdienstes.

»Aber«, fragte Cottler, »wer geht denn zum Gottesdienst? Du bezahlst irgendwen, der für dich hingeht, und brauchst dich selbst niemals blicken zu lassen.«

»Machst du das so?«

Er lachte leise. »Was soll ich denn sonst machen? Ich bin ein einziges Mal hingegangen. Im ersten Semester. Als gerade der Rabbiner da war. Einmal in jedem Semester kommt ein katholischer Priester, und einmal im Jahr lassen sie einen Rabbiner aus Cleveland kommen. Ansonsten haben wir hier immer nur Dr. Donehower und andere große Denker aus Ohio. Die leidenschaftliche Hingabe des Rabbiners an die Idee der Freundlichkeit hat mich für immer vom Gottesdienst geheilt.«

»Wieviel muss man zahlen?«

»Für einen Stellvertreter? Zwei Dollar pro Besuch. Praktisch nichts.«

»Vierzig mal zwei macht achtzig Dollar. Das ist nicht nichts.«

»Schau«, sagte er, »stell dir vor, du brauchst fünfzehn Minuten für den Weg von hier oben zur Kirche. Und für einen wie dich, für einen ernsthaften Menschen wie dich ist es kein Spaß, da zu sein. Du tust das nicht mit einem Lachen ab. Sondern du hockst eine Stunde lang in der Kirche und kochst vor Wut. Dann gehst du fünfzehn Minuten, immer noch kochend vor Wut, hierher zurück, um dich deinen nächsten Aufgaben zuzuwenden. Das macht insgesamt neunzig Minuten. Neunzig mal vierzig ergibt sechzig Stunden Wut. Das ist auch nicht nichts.«

»Wie findet man einen, den man dafür bezahlt? Erklär mir, wie das funktioniert.«

»Derjenige, den du anheuerst, nimmt die Karte, die ihm der Türsteher am Eingang aushändigt, und gibt sie ihm mit deinem Namen beschriftet wieder zurück, wenn er geht. Das ist alles. Meinst du, die haben in ihrem kleinen Büro einen Graphologen, der die Handschrift auf jeder einzelnen Karte überprüft? Die haken deinen Namen auf irgendeiner Liste ab, und das war’s. Früher bekam man einen Sitzplatz zugewiesen, und ein Aufseher, der jedes Gesicht kannte, ging in den Gängen auf und ab, um festzustellen, wer fehlte. Damals war Schwänzen nicht drin. Aber nach dem Krieg hat man das abgeschafft, und jetzt brauchst du nur einem Geld zu geben, der für dich da hingeht.«

»Aber wer macht das?«

»Jeder. Jeder, der seine vierzig Gottesdienste schon abgeleistet hat. Das ist Arbeit. Du arbeitest als Kellner im Gasthaus, jemand anders arbeitet als Stellvertreter in der Methodistenkirche. Wenn du willst, besorge ich dir einen. Ich kann auch versuchen, einen zu finden, der es für weniger als zwei Dollar macht.«

»Und wenn der sich verplappert? Dann schmeißen die einen doch hochkant raus.«

»Ich habe noch nie gehört, dass sich da mal jemand verplappert hätte. Das ist ein Geschäft, Marcus. Du triffst eine simple geschäftliche Vereinbarung.«

»Aber Caudwell weiß doch bestimmt davon.«

»Caudwell ist der größte Heilige von allen. Der kann sich gar nicht vorstellen, warum die Studenten nicht nach Dr. Donehowers Predigten lechzen, sondern die Stunde am Mittwoch lieber frei hätten, um sich auf ihrem Zimmer einen runterzuholen. Das war wirklich ein großer Fehler, dass du bei Caudwell vom Gottesdienst angefangen hast. Hawes D. Caudwell ist der Götze dieses Colleges. Winesburgs größter Footballspieler, größter Baseballspieler, größter Basketballspieler, größter Repräsentant der ›Winesburger Tradition‹ auf Gottes Erdboden. Wenn du es wagst, ihn von seinem Sockel als Wahrer der Winesburger Tradition zu stürzen, macht er dich fertig. Du weißt, was ein Dropkick ist? Der gute alte Dropkick? Caudwell ist Rekordhalter mit den meisten per Dropkick erzielten Punkten in einer Saison. Und weißt du, wie er jeden einzelnen dieser Dropkicks genannt hat? ›Dropkick für Jesus Christus.‹ Um solche Widerlinge macht man einen Bogen, Marcus. In Winesburg kommt man nur mit Zurückhaltung weiter. Den Mund halten, in Deckung bleiben, immer lächeln – dann kannst du alles machen, was du willst. Nimm das alles nicht persönlich, nimm das alles nicht so ernst, dann wirst du sehen, das hier ist nicht der schlimmste Ort auf der Welt für die besten Jahre deines Lebens. Du hattest bereits das Vergnügen mit der Blowjob-Queen von 1951. Für den Anfang doch gar nicht schlecht.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Soll das heißen, sie hat dir keinen geblasen? Du bist wirklich ein Unikum.«

Ärgerlich sagte ich: »Ich weiß immer noch nicht, worauf du damit anspielst.«

»Ich rede von Olivia Hutton.«

Wut stieg in mir hoch, die gleiche Wut wie auf Elwyn, als er Olivia eine blöde Kuh genannt hatte. »Warum redest du so von Olivia Hutton?«

»Weil Blowjobs im Norden von Ohio hoch im Kurs stehen. Das mit Olivia hat sich schnell herumgesprochen. Mach nicht so ein verblüfftes Gesicht.«

»Das glaube ich nicht.«

»Solltest du aber. Miss Hutton ist nicht ganz dicht.«

»Warum sagst du das nun schon wieder? Ich bin mit ihr ausgegangen.«

»Ich auch.«

Das brachte mich völlig aus der Fassung. In einem Zustand völliger Ratlosigkeit, was ich an mir hatte (oder was mir fehlte), das meine Beziehungen zu anderen so furchtbar enttäuschend machte, sprang ich von der Bank auf und eilte zu meiner Politologievorlesung, hörte aber noch, wie Sonny Cottler hinter mir sagte: »›Nicht ganz dicht‹ nehme ich zurück. Okay? Sagen wir, sie ist eine von diesen ziemlich seltsamen Typen, die außerordentlich gut im Bett sind, und das wiederum lässt auf eine leichte Gestörtheit schließen – gut so? Marcus? Marc?«

An diesem Abend musste ich mich noch einmal übergeben, begleitet von stechenden Magenschmerzen und Durchfall, und als mir endlich klar wurde, dass ich krank war und dass das nichts mit meinem Gespräch mit Dean Caudwell zu tun hatte, schleppte ich mich am nächsten Morgen in der Dämmerung zur Krankenstation des Colleges, wo ich, noch bevor die diensthabende Schwester mir irgendwelche Fragen stellen konnte, erst einmal zur Toilette rennen musste. Dann durfte ich mich auf eine Liege legen, um sieben wurde ich vom Arzt untersucht, um acht lag ich in einem Krankenwagen auf dem Weg in das fünfundzwanzig Meilen entfernte Gemeindekrankenhaus, und um zwölf Uhr mittags hatte ich keinen Blinddarm mehr.

Olivia besuchte mich als erste. Sie hatte nachmittags im Geschichtsunterricht von meiner Operation erfahren und kam gleich am nächsten Tag. Als sie an die halb offenstehende Tür meines Zimmers klopfte, hatte ich gerade ein Telefonat mit meinen Eltern beendet, die von Dean Caudwell informiert worden waren, sobald man im Krankenhaus beschlossen hatte, dass ich sofort operiert werden musste. »Gott sei Dank warst du so vernünftig, zum Arzt zu gehen«, sagte mein Vater, »so dass man dich noch rechtzeitig operieren konnte. Gott sei Dank ist nichts Schreckliches passiert.« »Dad, es war mein Blinddarm. Sie haben mir den Blinddarm herausgenommen. Das ist alles.« »Aber angenommen, sie hätten das nicht diagnostiziert.« »Aber sie haben es erkannt. Alles ist perfekt gelaufen. In vier oder fünf Tagen kann ich das Krankenhaus verlassen.« »Du hattest eine Notoperation. Du weißt, was das bedeutet?« »Aber der Notfall ist vorbei. Es gibt keinen Grund mehr, sich Sorgen zu machen.« »Wenn es um dich geht, gibt es eine Menge Gründe, sich Sorgen zu machen.«

Hier unterbrach sich mein Vater, weil er husten musste. Es klang schlimmer als je. Als er wieder sprechen konnte, fragte er: »Warum lassen sie dich so früh wieder gehen?« »Vier oder fünf Tage sind normal. Es ist nicht nötig, dass ich länger im Krankenhaus bleibe.« »Ich nehme den Zug und komme zu dir raus, sobald sie dich entlassen haben. Ich mache den Laden zu und komme zu dir raus.« »Nein, Dad. Rede nicht so. Ich weiß dein Angebot ja zu schätzen, aber ich komme im Wohnheim gut zurecht.« »Wer kümmert sich denn...

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