Spurensuche eines Kriegskindes

Spurensuche eines Kriegskindes

von: Hartmut Radebold, Hildegard Radebold

Klett-Cotta, 2015

ISBN: 9783608108200

Sprache: Deutsch

207 Seiten, Download: 2527 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Spurensuche eines Kriegskindes



EINLEITENDE BEMERKUNG

Das letzte Kriegstagebuch, das mein Vater über den Zeitraum vom Sommer 1944 bis zum März 1945 geführt hatte, blieb erhalten und gelangte auf Umwegen zu meiner Mutter. Mein Bruder und ich wussten lange nicht, dass es existierte; wir fanden es 1993 nach ihrem Tod. Erst nach sage und schreibe 21 Jahren fanden wir Brüder den Mut, das Tagebuch unseres Vaters gemeinsam zu lesen. Bis dahin hatten wir dies mit Hinweis auf die Unleserlichkeit der Schrift meines Vaters, halb Sütterlinschrift, halb Deutsch, vermieden. Wir fragten uns, warum wir uns nicht früher mit diesem Tagebuch beschäftigt hatten, denn die Schrift war wohl nur eine Ausrede gewesen. Nun endlich gingen wir die Sache zielstrebig an.

Einführung: Warum dieses Buch?

Im April 2014 nahm ich an einer Podiumsdiskussion zum Thema Trauma und Soziales Gedächtnis im Rahmen der Veranstaltungsreihe der Stadt München zum Kriegsausbruch 1914 teil. In der sich anschließenden Runde ergab sich ein Gespräch mit einem seit längerer Zeit mit uns befreundeten Ehepaar. Der Kollege und ich hatten uns schon bei anderer Gelegenheit über unsere Väter und unsere Veröffentlichungen1 zu dieser Thematik ausgetauscht. Angestoßen durch meine Beiträge auf dem Podium sprachen wir erstmals über unsere Kindheit im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Der fast gleichaltrige Kollege überraschte mich plötzlich mit einer Frage: »Über welche Ressourcen verfügen Sie? Wie konnten Sie sich aus dem verstörten Kind von damals zu dem Mann entwickeln, den ich seit langem so kenne?« Diese Frage erstaunte mich sehr; ich konnte sie an diesem Abend weder ihm noch mir befriedigend beantworten.

Meine eigenen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und der direkten Nachkriegszeit in meiner Kindheit und Jugend hatte ich, wie viele Kriegskinder, unter einer stabilen seelischen Betondecke vor mir selbst verschlossen. Bis zum 50. Lebensjahr konnte ich mich an sie erinnern, jedoch ohne die dazugehörigen Gefühle. Als ich 50 war, begann ich im Rahmen eines Forschungsprojektes psychoanalytische Behandlungen von 19 Erwachsenen, die zwischen 50 und 60 Jahre alt waren. Ihnen wurde hierbei ihre abgespaltene, leidvolle Geschichte als Kriegskinder allmählich bewusst. Unerwarteterweise konfrontierten auch mich die Behandlungen mit meiner eigenen schmerzlichen, leidvollen und bedrückenden Geschichte, die ich fortan erstmals gefühlsmäßig nacherlebte. Drei Jahre benötigte ich, um das 2000 erschienene Buch Abwesende Väter. Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen zu schreiben. Es stellt meinen ersten Versuch einer Annäherung an diese Thematik vor.

Seit ca. 60 Jahren wird umfassend erforscht, dass die entscheidenden Schritte der seelischen Entwicklung eines Menschen in Kindheit und Jugend stattfinden und bereits mit der vorgeburtlichen Phase beginnen. Ebenso wissen wir um die lang anhaltenden Folgen dauerhafter Gewalterfahrungen, Verwahrlosung, Ausbeutung und (sexuellen) Missbrauchs in diesen Lebensphasen. Inzwischen gehört es zum Gemeinwissen, dass diesen zerstörerischen Erfahrungen für die weitere persönliche Entwicklung große Bedeutung zukommt – also möglicherweise lebenslang. Schließlich bedarf es zur Entwicklung einer stabilen seelischen Widerstandsfähigkeit (Resilienz) beschützender Einflüsse in der Kindheit und Jugend. Ob diese Sicht allerdings von allen Erwachsenen für ihre eigene Entwicklung als entscheidend angesehen wird, muss jeweils erkundet werden.

Im Unterschied dazu wurde den zeitgeschichtlichen Erfahrungen, insbesondere den katastrophalen Ereignissen der beiden Weltkriege und ihren Folgen, prägende Auswirkungen nur für die Jugend, also das Alter von ungefähr 16 bis 25 Jahren, zugesprochen. So sprach man in Deutschland zum Beispiel von der Generation der jungen Frontoffiziere, der Generation der Flakhelfer oder der Skeptischen Generation. Bestimmt waren nicht alle Angehörigen dieser Jahrgänge betroffen. Mit dieser Perspektive wurde jedoch versucht, prägende generationale Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu beschreiben. Zeitgeschichtlichen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen wurde dagegen bis 2005 keine Bedeutung zuerkannt: Kinder haben doch noch nichts erlebt; Kinder vergessen schnell und bei Kindern wächst es sich aufgrund ihrer weiteren Entwicklung aus.

Im Herbst 2002 gründeten der Historiker Jürgen Reulecke und ich die Forschungsgruppe w2k (=weltkrieg2kindheiten). Die langjährige Zusammenarbeit in dieser interdisziplinären Forschungsgruppe2 ließ uns das bisher verkannte Ausmaß möglicher Betroffenheit und möglicherweise lebenslanger Folgen deutlicher werden. Unsere Forschungsergebnisse stellen meinen zweiten Versuch des Zuganges zu dieser Thematik dar.

Nach unseren Schätzungen waren damals in Deutschland über 60 % der Kinder und Jugendlichen vom Zweiten Weltkrieg betroffen; davon sind 30 bis 35 % als beschädigt und 30 bis 35 % als traumatisiert anzusehen. Zu ihren zeitgeschichtlichen Erfahrungen gehören der Bombenkrieg und Ausbombungen, Evakuierung und Kinderlandverschickung, Flucht und Vertreibung, Gewalteinwirkungen, Hunger, Armut und Not – in der Regel drei- bis viermal erlebt über einen Zeitraum von Monaten bis Jahren. Eine Angabe verdeutlicht das Ausmaß: Hierzulande gab es 2,5 Mio. Halbwaisen, das heißt, nach dem Krieg wuchs ein Viertel aller Kinder vaterlos auf, und 1,7 Mio. Kriegswitwen. Für Europa wird die Zahl der Halbwaisen auf 13 bis 20 Mio. geschätzt.

Fragt man nach bis heute anzutreffenden Auffälligkeiten, psychosomatischen und psychischen Symptomen oder Störungen bei Betroffenen, so zeigen sich folgende im Vergleich zu Nicht-Betroffenen in deutlich größerem Ausmaß:

  • allgemeine Ängste, Panikattacken, Phobien

  • leichte Depressionen

  • funktionelle, psychosomatische Störungen

  • posttraumatische Belastungsstörungen

  • Bindungs- und Identitätsstörungen

  • psychische Müdigkeit

  • eingeschränkte Alltagsbewältigung und Lebensqualität

  • stärkere Inanspruchnahme ärztlicher Versorgung

  • bekannt sind die typischen »Ich-syntonen« Verhaltensweisen, also solche, die man selbst im Gegensatz zu anderen als nicht auffällig, störend oder normverletzend empfindet.

Erst seit 2004/2005 wurde hierzulande der allgemeinen wie auch der fachlichen Öffentlichkeit zunehmend bewusst, dass wir für die Untersuchung der lebenslangen beschädigenden und traumatisierenden Folgen des Zweiten Weltkrieges eine zusätzliche Sichtweise benötigen: die Sicht auf die damals fast in ganz Europa betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Die Frage meines Kollegen im April 2014 in München hatte ich mir – jedenfalls bewusst – noch nie gestellt. Haben mir meine Erfahrungen im Krieg und in der direkten Nachkriegszeit Stärken und Fähigkeiten vermittelt, die mir halfen, mich trotzdem günstig weiterzuentwickeln und auch entsprechend mit meinem Älterwerden umzugehen?

Im Jahr 2014 fand ein einwöchiges familiäres »Seniorentreffen« mit meinem Bruder, der sechs Jahre älter ist als ich, und unseren Frauen statt. Wir wollten mit Hilfe unseres in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen lebenden älteren Vetters die Erinnerungen an die Teile unserer Kindheit wiederbeleben, die wir im dortigen Haus unserer heiß geliebten Tante erfahren durften. Für mich waren das verwöhnende und abenteuerliche Wochen, die ich genossen habe, fernab vom Krieg und der Nachkriegszeit im zerstörten Berlin.

Mit meinem dritten Versuch, dem hier vorliegenden Buch, möchte ich als 80-Jähriger jetzt, 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, eine vertiefende Spurensuche am Beispiel meines Lebens unternehmen.

Nach dem Duden (Das Bedeutungswörterbuch, 2010) bedeutet Spur den Abdruck von etwas im weichen Boden, die von einer äußeren Einwirkung zeugende (sichtbare) Veränderung und eine sehr kleine Menge von etwas.

Mich interessiert nicht (mehr), was ich geworden bin und geleistet habe, sondern warum ich so geworden bin. Also frage ich mich:

  • Wie habe ich mich in meiner »ungestörten« Kindheit im Frieden entwickelt?

  • Wie haben die...

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