Ein untadeliger Mann - Roman

Ein untadeliger Mann - Roman

von: Jane Gardam

Carl Hanser Verlag München, 2015

ISBN: 9783446250178

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 1535 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ein untadeliger Mann - Roman



Die Donheads


Er war sagenhaft sauber. Geradezu ostentativ sauber. Der Rand seiner alten Fingernägel war reinweiß. Die wenigen Haare unter seinen Fingerknöcheln waren immer noch golden und wirkten stets wie frisch schamponiert, ebenso wie sein lockiges, immer noch rötlich braunes Haupthaar. Seine Schuhe glänzten wie Kastanien. Seine Kleidung war immer frisch gebügelt. Er hatte die Eleganz der zwanziger Jahre, denn seine Kleider, wie auch immer sie bei näherer Betrachtung aussahen, passten zu ihm. Stets ein viktorianisches Seidentuch in der Brusttasche. Stets gelbe Baumwoll- oder Seidensocken von Harrods; manch ein Stück, das er noch aus dem fernen Osten hatte, war immer noch perfekt. Seine Haut war rein und wirkte bei schlechter Beleuchtung immer noch jung.

Seine Kollegen aus der höheren Anwaltschaft nannten ihn Filth, und das war durchaus nicht ironisch gemeint. Er galt als Ursprung des alten Witzes Failed In London Try Hong Kong. Es hieß, er habe die Londoner Gerichte als sehr junger, sehr armer Mann in einer spontanen Laune kurz nach dem Krieg verlassen und sei in Hongkong von Anfang an ungeheuer erfolgreich gewesen. Aber weil er ein bescheidener Mann sei, hieß es, bezeichne er sich selbst als Parvenü, als Betrüger und Luftikus.

Dabei war Filth gar nicht der Typ, der Witze machte, er war in Bezug auf seine Arbeit durchaus nicht bescheiden, und er gab selten, und wenn, dann höchstens in Extremsituationen, irgendwelchen Launen nach. Aber er wurde auch noch Jahre, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, geliebt, bewundert und freundlich belächelt. Man sprach über ihn.

Jetzt ging er auf die achtzig zu und lebte allein in Dorset. Seine Frau Betty war tot, aber zu Hause plauderte er immer noch häufig mit ihr. Er hatte einen wachen Geist und wache Augen und war ein reizender Mensch. Immer gewesen. Ein Mann, dessen vornehmes Leben gradlinig und glücklich verlaufen war. In seinem Haus roch es nicht nach Alter. Er war reich, und er ging ganz selbstverständlich davon aus, dass das Haus und er selbst sauber gehalten wurden, gefüttert und gewaschen von Bediensteten, wie es immer gewesen war. Er wusste, wie man Angestellte behandelte, und sie blieben über Jahre bei ihm.

Betty hatte ebenfalls ein gutes Händchen mit Angestellten gehabt. Sie war ebenso wie Old Filth in der Region geboren, die die Amerikaner den Orient nannten und die Britische Oberherrschaft den Fernen Osten. Sie waren sich ihres Standes bewusst, aber unprätentiös und beliebt.

Nach Bettys Tod hörte Old Filth auf zu kokettieren. Sein Leben stürzte ein. Er wurde umständlicher. Er begann, zunächst langsam, die Deckel von vergangenen Ereignissen zu heben, die er als vernünftiger Mann mit vernünftigen und gebildeten Freunden (er war Anwalt der Krone und Richter gewesen) bislang geschlossen gehalten hatte.

Sein Erfolg als Anwalt in Hongkong war so phänomenal gewesen, weil er entspannt, beherrscht, fleißig und talentiert war. Seine Karriere war in dem Moment in Gang gekommen, als die Straits-Chinesen anfingen, ihm das Mandat zu erteilen. Aus seiner Kindheit in Malaya war ihm eine Vertrautheit mit asiatischen Sprachen geblieben, außerdem empfand er auch eine gewisse Nähe zur asiatischen Seele. Wenn Old Filth Malaysisch sprach, oder (etwas weniger eloquent) Mandarin, hörte man eine unerwartete Stimme. Chinesische, malayische und bengalische Anwälte hatten zwar oft ebenfalls in Oxford und an den Inns of Court studiert, wurden aber allgemein für nicht direkt genug gehalten. Filth – oder inzwischen Old Filth, und seit er im Ruhestand war, oft sogar Good Old Filth – hatte sie allerdings als vollkommen geradlinig und nach seinem Geschmack empfunden.

Sein ganzes Leben lang hatte er chinesische Werte hochgehalten: die Höflichkeit, die plötzlichen Seitenhiebe, die unbedingte Gastfreundschaft, die Freude am Geld, die Schicklichkeit, die Wertschätzung des Essens, die Diskretion, die Cleverness.

Er hatte eine Schottin geheiratet, die in Peking geboren war. Sie war etwas stämmig und burschikos, hatte die breiten Schultern von Lanarkshire und große Hände, aber sie sprach fließend Mandarin und fühlte sich in den chinesischen Sitten und Gebräuchen sehr viel mehr zu Hause als auf ihren seltenen Besuchen in Schottland. Ihre Leidenschaft für Schmuck war chinesisch, sie fuhr mit ihren starken schottischen Fingern auf den Straßenmärken von Kowloon durch die Tabletts mit Jade wie durch Strandkiesel. »Wenn du das machst«, sagte Old Filth manchmal zu ihr – da waren sie noch jung, und ihre Anwesenheit war ihm noch nicht selbstverständlich geworden –, »sind deine Augen beinahe mandelförmig.« »Arme, alte Betty«, sagte er nun zu ihrem Geist im Sessel in ihrem Haus in Dorset, wo sie sich zur Ruhe gesetzt hatten und wo sie gestorben war.

Warum eigentlich Dorset? Das wusste niemand. Vielleicht irgendeine alte Familientradition. Filth sagte, er möge den Rest von England nicht, Betty, es sei ihr zu kalt in Schottland. Von Wales hielten sie beide nichts.

Aber wenn es je ein altes Paar gegeben hatte, das für einen Ruhestand als Expats in Hongkong gemacht zu sein schien – Mitglieder im Cricket Club, im Jockey Club, treue Nutzer der englischen Leihbücherei, Stütze der St. Andrew’s Church und der St. John’s Cathedral –, dann waren es Filth und Betty. Leute, die sich immer Angestellte würden leisten können (Filth war steinreich), die in einem Haus auf dem Peak leben würden, die jeden Freund eines Freundes eines Freundes, der die Kronkolonie besuchte, stets herzlich willkommen heißen und bewirten würden. Wer an Betty dachte, sah sie an ihrem runden Rosenholztisch sitzen, sich schnell vergewissern, ob etwa ein Teller leer war, und mit dem kleinen Glöckchen klingeln, mit dem sie die hinterhältig lächelnden Mädchen in identischen, prächtigen Cheongsams rief. Old Filth und Betty waren durch und durch Kosmopoliten, und sie waren eine Zierde auf den Trauerfeiern für ihre alten Freunde in der Kathedrale, Engländer wie Chinesen. In den letzten Jahren hatten diese Todesfälle sich wirklich gehäuft.

War es womöglich »das Pfund«, das sie nach Dorset gezogen hatte? Der Gedanke, in Hongkong eines Tages von einer Pension leben zu müssen? Aber der Teil von Dorset, den sie sich ausgesucht hatten, war keineswegs kostengünstig. Es war bekannt, dass Betty eigenes Geld hatte, und Filth hatte immer munter behauptet, er hätte es so lange wie möglich hinausgezögert, Richter zu werden, damit er nicht von einem Gehalt leben musste.

Und sie hatten keine Kinder. Keine Verpflichtungen. Niemanden, dessentwegen sie nach England hätten zurückkehren müssen.

Oder war es – das war am wahrscheinlichsten – das Ende des Empire gewesen? Das Jahr 1997 rückte näher. Konnten sie den Gedanken nicht ertragen, dass die Barbaren kommen würden? Die ihnen inzwischen unbekannten, aber sicher veränderten Festlandchinesen, deren Großeltern die kleine Miss Betty als Baby mit weichem Malzgelee gefüttert und ihr furchterregende Märchen erzählt hatten?

Filth und Betty hatten keinen Bedarf an Unbekanntem, und schon fünf Jahre bevor sie Hongkong verließen, hörte man kaum noch Englisch in den Geschäften und Hotels, und wenn, dann wurde es nicht mehr so gut gesprochen. Viele Engländer und Chinesen aus ihrem Bekanntenkreis waren bereits nach London oder Seattle oder Toronto gegangen und viele Kinder auf Internate geschickt worden. Die elegantesten Villen auf dem Peak waren verriegelt und verrammelt, und bei Bettys Lieblingsjuwelier hoben die jungen Mädchen, die den ganzen Tag hinter dem Tresen saßen und Perlen aufzogen und die immer noch aussahen wie unter sechzehn, obwohl Betty sie schon seit über zwanzig Jahren kannte, jetzt etwas langsamer den Blick, wenn Betty die Glocke an der gepanzerten Tür klingeln ließ. Sie hatten immer noch das fest installierte Lächeln im Gesicht, aber irgendwie hatten sie nicht mehr ganz so schöne Steine für sie. Die Chinesinnen, die Betty kannte, hatten diese Schwierigkeiten nicht.

Also waren Filth und Betty plötzlich weg gewesen, für immer verschwunden aus den himmelhohen, glitzernden Vorhängen aus Licht, leuchtendem Gold, Zartgrün und Rosé, von den geschäftigen Wassern des großartigsten Hafens der Welt und dem ewigen Schauspiel ein- und auslaufender Schiffe aller Art: Dschunken und Ölfrachter, Privatyachten wie Schwäne, und die tröstlichen kleinen flaschengrünen Star Ferries, die den ganzen Tag und einen Großteil der Nacht hindurch nach Kowloon und zurück tuckerten. Zugelassen für 319 Personen. Filth hatte die Gewissheit dieser 19 immer geliebt.

Weg waren sie also, weit weg von ihren Freunden und über siebzig, in einem Haus tief in den Donheads an der Grenze zwischen Dorset und Wiltshire, einem alten, niedrigen Steinhaus, das vom Tor aus nicht zu sehen war. Eine holprige, schmale Einfahrt führte in Kurven zum Haus hinauf und außer Sicht. Das Haus stand auf einer kleinen Anhöhe und blickte über Wälder mit sämtlichen Sorten und Farben englischer Bäume hinweg, und ganz hinten am Horizont war das langgestreckte, kalksteinweiße und von Wolkenschatten gesprenkelte Hügelland zu erkennen. Kein Ort auf der Welt ähnelt Hongkong oder dem Fernen Osten weniger.

Das Haus war allerdings nicht so abgelegen, dass ein Arzt in einigen Jahren vorschlagen würde, dem Krankenpflegedienst zuliebe näher an die Zivilisation zu ziehen. Eine halbe Meile die hügelige Straße hinauf lag ein Dorf, und eine halbe Meile in die andere Richtung hinauf – ihre Einfahrt lag in einer Senke – lagen eine Kirche und ein Laden. Zwischen den Bäumen waren noch weitere Häuser verteilt. Es gab sogar ein direktes Nachbarhaus, dessen Einfahrt neben ihrer den Hügel hinaufführte,...

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