Laure Wyss - Leidenschaften einer Unangepassten

Laure Wyss - Leidenschaften einer Unangepassten

von: Barbara Kopp

Limmat Verlag, 2013

ISBN: 9783857919411

Sprache: Deutsch

350 Seiten, Download: 2583 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Laure Wyss - Leidenschaften einer Unangepassten



WYSS

Der Beamte nahm einen leeren Pass vom französischen Stapel, obwohl die Bittstellerin breiten Berner Dialekt mit bielerischem Einschlag sprach und obwohl sie in Zürich heimatberechtigt war, «originaire de Zurich», «Canton de Zurich», geboren den 20. Juni 1913, bei der Ausstellung des Ausweises fast 33 Jahre alt. Der Familienname der Bittstellerin war kurz, die vorgesehene Linie auf «page première» viel zu lang. Der Beamte hätte die vier Buchstaben ihres Namens in die Mitte der Linie setzen können. Dies hätte auf der ersten Seite im «Passport de la Confédération Suisse» ein harmonisches Bild ergeben. Aber er zwängte die vier Buchstaben an den Anfang der Linie und was er anfügte, hatte dennoch zu wenig Platz und schwang über die Linie hinaus: «div. Zietzschmann».

Er hinterließ vorsätzlich einen Fingerzeig, den jeder eidgenössische Beamte sofort zu deuten wusste, wenn er diesen Pass aufschlug: «divorcée».

Eine Geschiedene.

Eine Scheidung hinterließ beim Namen eines Mannes kein Zeichen, hingegen blieb sie am Namen einer Frau ablesbar, ein Makel, der in amtlichen Papieren dem Namen anhing, es sei denn, die Geschiedene heiratete wieder.

Die Passinhaberin unterschied wie schon früher zwischen dem Heimatort und einer Heimat, in der sie sich geistig niederließ. Der Heimatort war ein relativer Ort, den sie nicht gewählt hatte, der zuerst vom Vater abhing, dann vom Ehemann. Die Heirat hatte ihr das Bürgerrecht für Zürich eingebracht. In Davos hatte sie nicht bleiben können, weil Ernst Zietzschmann blieb, nach Biel wollte sie nicht zurückkehren, nach Leubringen-Évilard schon gar nicht heimkommen. Sie zog nach Zürich, in die Stadt, die ihr als Bürgerort auch nach der Scheidung geblieben und ihr vom Studium vertraut war. Die geistige Heimat war eine selbst gewählte, eine ideelle, die sich mit dem Klang einer Sprache und mit Lektüren verband, mit Stéphane Mallarmé und Paul Valéry, mit André Gide.

Das Passpapier gehörte zur Sorte der Sicherheitspapiere, die ausgesprochen zäh und fest waren, Nässe, Hitze und mechanischen Einwirkungen länger standhielten als gewöhnliche Papiere. Laure Wyss kratzte mit der Stahlfeder ihres Tintenfüllers über das Passpapier und immer wieder an derselben Stelle, sodass eine Schabspur entstand, viel Tinte ausfloss, durch das Sicherheitsfaserngewebe drang und auf der Rückseite einen breiten Striemen hinterließ. Beinahe hätte das Papier gerissen. Die Abkürzung «div.» war nicht mehr zu entziffern, das Wort «Zietzschmann» ließ sich bei guten Deutschkenntnissen gerade noch entschlüsseln. Nichts zog nun mehr die Aufmerksamkeit auf sich als die Wutstriche auf «page première». In Hellblau.

Zwischen die Passseiten steckte sie etwas Zeitung, sorgfältig den Zeilen entlang geschnitten und auf Passgröße zusammengefaltet. Der Text berichtete über den Beschluss 862 des Zürcher Stadtrates vom 18. April 1947. Der Stadtrat wies das Zivilstandsamt an, bei geschiedenen Frauen auf die Nennung der einstigen Ehenamen zu verzichten, wenn die erneute Verehelichung im Amtsblatt ausgeschrieben werde. Weiter erließ der Stadtpräsident eine entsprechende Mitteilung an die Wohlfahrtsbehörde, an die Vormundschaftsbehörde und die Amtsvormundschaft. Im Zeitungsausschnitt stand dazu:

«Eine begrüßenswerte Mitteilung. Dem Zürcher Stadtpräsidenten sei sie verdankt. Sie wird vielen Frauen etwas ersparen, was sie als unbefugten Eingriff und als überflüssigen Nadelstich empfinden.»

Wann die Wutstriche dem Pass zugefügt wurden, ist nicht ersichtlich. Ob zur Zeit, als der Zeitungsartikel erschienen war, oder später, ob noch vor der Verlängerung des Passes oder erst nach dessen Ablauf Ende April 1953. Wahrscheinlich aber erst, nachdem der Pass nicht mehr gültig war. Denn hätte Laure Wyss ihren zugerichteten Pass einem Beamten vorgewiesen, dann wäre der Beamte in der Pflicht gestanden, die Ursache für die Schabspur abzuklären. Die Beschädigung von Staatseigentum verlangte nach amtlicher Ermittlung. Sie hätte dem Beamten zur Erklärung den Zeitungsausschnitt vorlesen können, dass der Fortschritt aus Zürich kam, dass dort von Amtes wegen die geschiedenen Frauen gleich behandelt wurden wie die geschiedenen Männer, an deren Familiennamen keine gescheiterten Ehen hingen. Aber was hätte ihr das geholfen? Am Zoll hätte ein Zucken mit der Beamtenschulter gereicht. Der Beschluss 862 galt nur bis an die Grenzen der Stadt Zürich.

VERSPRECHUNGEN

Im Pass zeigte sich die Nachkriegsordnung im Sommer 1946 als eine Abfolge von Genehmigungen, die mühsam zu beschaffen waren, und Grenzkontrollen, die das Reisen langwierig und beschwerlich machten. Das erste Visum für Polen wurde annulliert und durch ein zweites ersetzt. Der Zollbeamte am Flughafen Zürich bekräftigte rot auf schwarz den Abflug, in Warschau testierte ein anderer die Ankunft. Nach vier Wochen bestätigte der polnische Grenzschutz, dass die Reisende das Land wieder verließ. Die Grenzpolizei der Ceskoslovenske Republiky registrierte sie darauf am Stadtrand von Prag. Sie besaß eine Aufenthaltsgenehmigung von vier Tagen, die der Konsul in Warschau ausgestellt hatte. In Prag erfolgte eine weitere Kontrolle, danach fuhr sie mit der Eisenbahn durch Böhmen, die Grenzpolizei bestätigte die rechtzeitige Ausreise vor Ablauf der Aufenthaltsgenehmigung. Auf österreichischer Seite führte das Zollamt Summerau eine genaue Inspektion von Gepäck und Person durch, approbierte die Einreise nach Zahlung einer erheblichen Gebühr und erlaubte die Weiterfahrt durch die sowjetische, amerikanische und französische Besatzungszone. Die letzten Kontrollen dann am Grenzübergang bei Buchs.

Die Reise begann als Informationsreise für ausgewählte Pressevertreter, die über den Zustand des Landes berichten sollten, in dem der Krieg begonnen hatte. Laure Wyss vertrat den «Schweizerischen Evangelischen Pressedienst». Wie einst Hilde übersetzte und redigierte sie als Redaktorin Nachrichten zur Lage der evangelischen Kirchen in Europa und schrieb über die Reformierten in der Schweiz. Wöchentlich lieferte der Pressedienst ein Bulletin an kirchliche Mitarbeiter und religiöse Zeitschriften.

Nach der Pressereise blieb sie in Polen. Sie hatte vom «Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz» den Auftrag, Kontakte zu knüpfen, Kirchgemeinden zu besuchen und sich einen Eindruck zu verschaffen. Das Hilfswerk, HEKS genannt, war im Aufbau begriffen, sammelte Kleider, Schuhe, Spielzeug, baute Barackenkirchen, Notunterkünfte und Waisenheime. Die «Evangelische Bruderhilfe», das Nachrichtenblatt des Hilfswerks, berichtete über die Aktionen und zitierte aus Zuschriften. Ein Berliner Pfarrer meldete von Polen:

«Die Gestapo wütete unter den dem polnischen Staate treuen Evangelischen besonders. Da sie sich dem Hitlertum nicht anschließen wollten, wurden sie ihrer Güter beraubt, aus dem Lande ausgewiesen und in Massen in die Konzentrationslager verschickt, wo sie zum größten Teil untergingen. Unter dem Rest herrscht jetzt große Not.»

Ein tschechischer Geistlicher schrieb:

«Wir sind alle unterernährt: Liter Wassermilch täglich und der Winter ohne Kohle und warme Kleidung steht vor uns. Sechs Jahre lang haben wir uns nicht satt gegessen. Wenn es möglich ist: Milch, Milch, Milch!»

Laure Wyss nahm ein Paar Ski mit. Polen war nahezu flach bis auf die Tatra, diesem Mittelgebirge, das von der polnischtschechischen Grenze zweigeteilt wurde, die niederen Erhebungen befanden sich auf polnischer Seite. Die Skier versprachen Gipfelglück nach langen Aufstiegen, dann Fahrtglück, wenn sie wie von selbst ins Weite hinunterschossen und die Fahrenden aus der Zeit fielen und doch aufgehoben waren in einer übermächtigen Landschaft. Die Skier waren ein Versprechen auf eine bessere Zeit.

Sie hatte eine Mitgliederkarte für den «Klub Wysokogòrski Winterthur». Polnische Scharfschützen, die im Krieg mit einer französischen Armeedivision über die Schweizer Grenze gekommen waren, hatten den Verein gegründet. Im Bergsteigerklub aus dem Internierungslager in Winterthur verband das Heimweh nach Krakau und dem Tatra-Gebirge.

Beim Ausweis bewahrte sie eine Fotografie auf: Sie, eingewickelt wie eine Mumie, mit Riemen an der Tragbahre festgebunden, den Kopf auf ein Kissen gebettet, so lag sie braungebrannt, lachend und jung auf der Trage für Verletzte. Ein Jux der Männer mit der Frau in der Seilschaft.

Der Ausweis für das außerordentliche Mitglied war vier Monate vor Kriegsende ausgestellt worden, dann kehrten die Internierten nach Polen zurück.

Was war es gewesen, eine Schwärmerei für einen der Scharfschützen? Ein Rückhalt in einer zufälligen Gemeinschaft, eine Stärkung auf Bergtouren während der letzten Monate ihrer Ehe? Möglicherweise hatte sie die Bergsteiger durch...

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