Gerontologie - Einführung und Geschichte

Gerontologie - Einführung und Geschichte

von: Hans-Werner Wahl, Vera Heyl, Clemens Tesch-Römer, Hans-Werner Wahl, Siegfried Weyerer, Susanne Zank

Kohlhammer Verlag, 2015

ISBN: 9783170261273

Sprache: Deutsch

238 Seiten, Download: 4012 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Gerontologie - Einführung und Geschichte



2         Zur Geschichte des Alters und der Alternsforschung


 

 

»Perhaps the most constructive ways of adapting to an aging society will emerge by focusing, not on age at all, but on more relevant dimensions of human needs, human competencies, and human diversity.« (Neugarten, zitiert nach Achenbaum & Albert, 1995, S. 261).

2.1        Einführung


Sich mit der Geschichte des eigenen Fachs oder Wissenschaftsfeldes zu beschäftigen, ist keine reine Nabelschau. Die Notwendigkeit auch geschichtlicher Perspektiven ist vielmehr allgemein anerkannt. So finden sich viele Abhandlungen etwa zur Geschichte der Medizin, Physik oder Chemie, und Wissenschaftsgeschichte ist ein anerkanntes Gebiet der Geschichtswissenschaft. Allerdings besitzen solch geschichtliche Abhandlungen bisweilen eher einleitenden Charakter, um dann zu dem Eigentlichen zu kommen, und sie sind willkommen für Jubiläen, Festvorträge oder Nekrologe.

Ansatz dieses Kapitels, das bewusst nicht an den Anfang des Buches gestellt wurde, ist es, geschichtlichen Perspektiven der Alternsforschung eine zentrale Rolle zu geben. Dies führt zu der Frage, warum wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven (auch) in der Alternsforschung hilfreich, vielleicht sogar essentiell sind. Hier einige Antworten auf diese Fragen: Erstens erscheint Geschichtsschreibung oder gar Geschichtsforschung in der Gerontologie besonders interessant, weil sich hier zwei Entwicklungsdynamiken in komplexer Weise kreuzen: Auf der einen Seite steht die Entwicklung und wechselseitige Beeinflussung von Disziplinen wie beispielsweise der Alternsbiologie, Alternsmedizin, Alternssoziologie und Alternspsychologie innerhalb der Gerontologie als einem stark interdisziplinären Unterfangen; auf der anderen Seite steht – wie es manchmal heißt – die »Gerontologisierung« der jeweiligen Heimatdisziplinen. Die Gerontologie dürfte in neuerer Zeit im Kontext unterschiedlicher Wissenschaftsfelder als relativ einzigartig dastehen, wenn es um dieses auch wissenschaftsgeschichtlich interessante Wechselspiel geht.

Zweitens kann das Verstehen dessen, was in der Gerontologie theoretisch, methodisch und empirisch heute der Fall ist, auch von einer historischen Perspektive profitieren. So erscheint es, und dies zu betonen ist uns für das vorliegende Buch ein besonderes Anliegen, auch ausbildungsbezogen für angehende Gerontologinnen und Gerontologen wichtig, geschichtliche Einordnungen vorzunehmen, um die Bedeutung von Lehrinhalten umfassend bewerten zu können. Warum, beispielsweise, hat die »Disengagement-Theorie des Alterns« einst in den 1960er- und 1970er-Jahren die gerontologischen Gemüter so erregen können und welche Konsequenzen hatte die sog. Disengagement-/Aktivitätsdebatte im Hinblick auf aktuelle Theorien in der verhaltens- und sozialwissenschaftlichen Gerontologie und heutige Altersbilder? Welche Vorzüge bieten die heutigen komplexen statistischen Auswertungsmethoden, wenn wir sie mit den einfachen von vor 50 Jahren genutzten Methoden vergleichen (darauf werden wir auch in Kapitel 3 zurückkommen)? In welcher Weise können wir in den vorliegenden empirischen Ergebniskörpern der heutigen Alternsforschung tatsächlich einen Wissensfortschritt gegenüber der Gerontologie von gestern oder vorgestern erkennen? Freilich sind Antworten auf solche Fragen nicht nur ausbildungsbezogen bedeutsam, sondern auch im Sinne einer »Meta-Gerontologie«, also einer systematischen Reflexion über das Feld der Gerontologie im Sinne der systematischen Bilanzierung ihres gegenwärtigen Zustands. Dazu wollen wir Sie herzlich ermutigen: Übernehmen Sie nicht einfach, was aus gewichtigen Mündern oder von gewichtigen Orten (Cambridge, Harvard oder Stanford lassen grüßen …) kommt, sondern fragen Sie kritisch nach, auch in der Gerontologie!

Drittens sind geschichtliche Perspektiven – von dieser Bilanzierung ausgehend – auch bedeutsam, um aus Reflexionen und geschichtlich eingebetteten Fragen, wie eben angedeutet, wesentliche produktive, möglicherweise aber auch eher irreführende Entwicklungslinien (der Wissenschaftstheoretiker Lakatos würde von »negativen Heuristiken« sprechen; Lakatos, 1970) der bisherigen Gerontologie zu erkennen. Solche Einsichten wären wiederum sehr wesentlich, um den weiteren Gang der Alternsforschung entsprechend beeinflussen und steuern zu können.

Und viertens kann es erhellend sein, Wissenschaftsentwicklung nicht zuletzt auch als einen sozialen Prozess zu begreifen, in den einige Forscherpersönlichkeiten mehr, andere weniger eingreifen, in dem Theorien nicht nur durch Widerlegung in den Hintergrund treten, sondern auch weil ihre Erfinder – etwa durch Emeritierung oder Tod – von der wissenschaftlichen Bühne treten. Nicht zuletzt aus diesem Grunde werden wir an vielen Stellen auch über den biografischen Werdegang einzelner Forscherpersönlichkeiten etwas ausführlicher berichten, denn diese sind es ja letztlich gewesen, welche die Gerontologie befördert und zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Nicht unwesentlich sind in diesem Zusammenhang auch Genealogien des Faches, etwa die Frage, wer Schüler von wem gewesen ist und aus diesem Grunde diesen oder jenen wissenschaftlichen Ansatz vertritt. Auch in Ausbildungssituationen zur Gerontologin/zum Gerontologen kann es durchaus erhellend sein zu wissen, wer aus welchem Stall kommt und deshalb dieses oder jenes Altersbild oder diesen oder jenen wissenschaftlichen Ansatz vertritt.

Ziel dieses Kapitels ist eine Geschichte der Gerontologie im Taschenformat, wobei zwei Aspekte mit Bedeutung für die Alternsforschung eine Rolle spielen sollen: Auf der einen Seite ist es interessant, die historische Entwicklung und Veränderung von Alter als einer sozial-gesellschaftlichen und kulturellen Kategorie zu verfolgen. So ist beispielsweise die Suche nach Allheilmitteln in Richtung »forever young« und »Anti-Aging« wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. Reflexionen in Bezug auf »alternde Gesellschaften« in Folge der im 20. Jahrhundert einsetzenden tiefgreifenden demografischen Wandlungen entfalten sich hingegen erst seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts (Anstieg des Anteils der Älteren infolge der steigenden Lebenserwartung beginnt allmählich einer breiten Öffentlichkeit in all seinen Konsequenzen bewusst zu werden), und dieses sich Bewusstwerden läuft bis heute weiter.

Auf der anderen Seite wird die Geschichte der vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit Alter und Altern im Mittelpunkt stehen. Wir konzentrieren uns dabei auf den deutschsprachigen Raum und auf die USA, letzteres vor allem deswegen, weil die Forschungssituation im nordamerikanischen Raum bis heue eine Art Vorbild- und Referenzcharakter besitzt und insofern Blicke »über den großen Teich« besonders illustrativ und bedeutsam sein können (bitte vergleichen Sie bei Interesse für die Geschichte der Gerontologie in anderen Ländern z. B. Birren & Schroots, 2000; Thomae, 1994a).

Man kann nun eine solche zweifache Geschichte des Alters und der Altersforschung sicherlich sehr lange oder sehr kurz verfassen. So finden sich bereits in den ersten schriftlichen Zeugnissen der Menschheit, etwa den sog. Smith-Papyrusrollen aus dem vierten vorchristlichen Jahrtausend, interpretationsfähige Hinweise auf die Anerkennung von Hochaltrigkeit, die zu jener Zeit wegen ihrer Seltenheit wahrscheinlich als überirdische Erscheinung bzw. Wunder verehrt wurde. Demgegenüber kann man auch mit Recht behaupten, dass erst seit etwa den 1950er-Jahren eine breiter angelegte systematische Erforschung des Alters zu beobachten ist (Birren & Schroots, 2001). Wir werden in diesem Kapitel den Versuch unternehmen, insgesamt einen relativ großen Bogen zu spannen, jedoch auf die Betrachtung der neueren, im engeren Sinne wissenschaftlichen Entwicklungen der Alternsforschung in größerem Detail eingehen. Auch sei an dieser Stelle gesagt, dass es das Kapitel überfordern würde, sowohl eine Geschichte der für die Gerontologie so wichtigen medizinisch-biologischen Aspekte bzw. der Geriatrie wie der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Bestrebungen vorzulegen (vgl. zur frühen Geschichte der Geriatrie die ausführliche Darstellung bei Lüth, 1965). Wir versuchen einen Mittelweg, legen jedoch den Schwerpunkt stärker auf die letzteren Bereiche.

Schließlich sei gesagt, dass es bereits eine Vielzahl von Abhandlungen zur Geschichte der Gerontologie gibt (vgl. im Überblick Wahl, 2004). Dieses Kapitel baut auf dieser Fülle an bereits vorliegendem Material auf und will dieses in griffiger Form synthetisieren. Zusätzlich zu den vorliegenden Abhandlungen werden wir auch manche eigenen Analysen von Quellen einbeziehen.

2.2        Ausgewählte quantitative Betrachtungsweisen zur Geschichte der Gerontologie


Im Rahmen einer quantifizierenden Auswertung von Literaturdokumentationssystemen, einer sog. bibliometrischen...

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