Großmütter erzählen - Geschichten aus der guten alten Zeit

Großmütter erzählen - Geschichten aus der guten alten Zeit

von: Roswitha Gruber

Rosenheimer Verlagshaus, 2015

ISBN: 9783475543746

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 1775 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Großmütter erzählen - Geschichten aus der guten alten Zeit



Große Liebe zu kleinen Tieren


Sieglinde, Jahrgang 1925, aus München

Drei große Hobbys hatte ich mein Leben lang: den Garten, meine Tiere und das Lesen. Das fing alles schon in meiner Kindheit an.

Mein Vater war Lehrer in München gewesen. Deshalb wurde ich dort geboren. Bei meiner Geburt war mein Vater maßlos enttäuscht darüber, dass ich kein Junge war. Er schaute mich nicht mal an. Meine Mutter war so sehr gekränkt, dass sie in Tränen ausbrach und immer wieder bat: »Schau dir das Kind doch wenigstens mal an.« Schließlich tat er das, damit sie endlich Ruhe geben sollte. In diesem Moment muss ich einen Mundwinkel verzogen haben, wie das bei Neugeborenen öfters vorkommt. Er hielt es für ein Lächeln. Darüber war er so glücklich, dass er mich aus der Wiege nahm. Er drückte mich so fest an sich, dass die Mutter jetzt wieder Angst bekam, er könnte mich gar zerdrücken.

Mein erstes Wort war nicht Mama oder Papa, wie das normalerweise bei Kindern üblich ist. Mein erstes Wort war ›Rüssel‹. Da muss ich gerade ein Jahr alt gewesen sein, und wir waren zu Besuch bei meiner Tante in Nürnberg. Die Tante besaß einen kleinen Hund. Wegen seiner langen Schnauze hieß der ›Rüssel‹. Von diesem Hund muss ich so fasziniert gewesen sein, dass ich zum Staunen aller Anwesenden auf einmal »Rüssel, Rüssel« krähte.

Schon bald nach diesem Erlebnis wurde mein Vater nach Roth bei Nürnberg versetzt. Deshalb habe ich keine Erinnerung mehr an die Münchener Zeit.

In Roth war es herrlich. Das war ein sehr kleiner Ort, in dem absolut nichts los war. Wir wohnten in einer Sackgasse. Der ganze Verkehr dieser Straße war das Postauto, das morgens wegfuhr und abends wiederkam.

Wir wohnten in der ersten Etage eines Zweifamilienhauses, das von einem großen Garten umgeben war. Im Erdgeschoss lebte noch ein anderes junges Ehepaar. Deren Tochter Helga war in meinem Alter und wurde bald meine beste Freundin.

Gleich hinter unserem Garten schloss sich der Wald an. Auch der Bach war nicht weit weg. Das war schon sehr idyllisch. Und einen Haufen Kinder gab es in der Nachbarschaft auch. Das war etwas für mich als Einzelkind! Mit denen konnte ich überall nach Herzenslust spielen, auf der Straße, im Wald, am Bach. Es war das reinste Kinderparadies.


Wie gesagt, tierverrückt war ich von Anfang an. Schon als ganz kleines Putzele brachte ich es fertig, mit Helga vor einem Ameisenhaufen zu hocken. Es wurde uns nie langweilig, zuzuschauen, wie die fleißigen Tiere hin und her liefen und kleine Äste oder Blätter herbeischleppten. Hatte einer unserer Spielkameraden, aus Unachtsamkeit oder mit Absicht, einen Ameisenhaufen gestört, konnte ich in Tränen des Mitleids und der Wut ausbrechen. Dann setzte ich mich vor den Bau und beobachtete das geschäftige Treiben der Ameisen, wie sie ihre Eier in Sicherheit brachten, und wie sie sich abmühten, den Schaden wieder zu beheben.

Als wir beide, die Helga und ich, schon in die Schule gingen, hatten wir einen neuen ›Sport‹. Wir setzten Weinbergschnecken in eine Reihe und warteten voll Spannung, welche als Erste ›losrannte‹ und welche Sieger wurde. Wir haben die Tiere bestimmt nicht gequält. Aber meine Mutter machte unserem Spaß bald ein Ende. Das wäre Stress für die Tiere, behauptete sie.

Uns Kindern erging es damals viel besser als den heutigen Kindern. Heute ersticken sie an Übersättigung und haben trotzdem Langeweile. Langeweile war für uns ein Fremdwort. Wir spielten Fangen, Verstecken; wir waren Räuber und Gendarm und Indianer mit Wigwam und Marterpfahl. Mit einer primitiv gemachten Peitsche brachten wir Holzkreisel zum Tanzen. Aus Eichenblättern bastelten wir uns Kronen, setzten sie aufs Haupt und fühlten uns wie die Könige. Wir waren rundum glücklich. Und Süßigkeiten, wann bekamen wir schon mal Süßigkeiten? Die Kinder heute haben Süßigkeiten im Überfluss, und können nicht nachvollziehen, was für eine Bedeutung diese für uns hatten.

Mein Glück war riesig, wenn ich mir ein ›Viertel Liliput‹ kaufen durfte. Das waren kleine, saure Bonbons. Hundertdreizehn Stück passten in eine Tüte und kosteten siebzehn Pfennig. Die bekam ich immer dann, wenn wir nach Nürnberg fuhren. Das kam vielleicht zweimal im Jahr vor.

An Weihnachten stand als Einziges auf meiner Wunschliste: ein Viertel Goldnüsse für fünfunddreißig Pfennig. Ist das heute noch vorstellbar?

Apropos Weihnachten. Da fällt mir eine Geschichte ein, die ereignete sich, als ich zwischen vier und fünf Jahre alt war. Es war am Nachmittag des Heiligen Abends. Die Gans für das Abendessen war schon im Ofen. Meine Mama wollte schnell noch etwas besorgen. Ich solle schön brav beim Papa bleiben, war ihre Ermahnung. Dem fiel aber kurz danach auch noch ein, dass er noch mal fort müsse. Ich solle schön brav in meinem Zimmer bleiben, sonst käme der Pelzmärtl und hole mich, warnte er mich beim Weggehen.

Den Pelzmärtl kannte ich. Bei uns in Franken ist es der Brauch, dass der am 11. 11., also am Martinstag, die Kinder besucht – so wie das anderswo am 6. 12. der Nikolaus tut. Den Brauch, dass der Nikolaus kommt, kennt man bei uns dagegen nicht. Der Pelzmärtl ist ebenso gewandet wie der Nikolaus und ebenso ausgestattet mit Sack und Rute. Die braven Kinder bekommen kleine Geschenke, wie Äpfel und Nüsse. Die bösen Kinder dagegen erwartet Bestrafung durch Sack und Rute.

Durch die gut gemeinte Ermahnung meines Vaters war ich so verängstigt, dass ich am ganzen Leibe zitterte. Völlig allein in meinem Zimmer fühlte ich mich so verlassen, dass ich unters Bett kroch. Wenig später klingelte es an der Haustür. In meiner Angst befürchtend, dass das der Pelzmärtl sei, wagte ich mich nicht aus meinem Versteck hervor. Es war jedoch meine Mama, die den Hausschlüssel vergessen hatte. Da niemand aufmachte, ging sie um das Haus herum. Unter meinem Zimmerfenster rief sie, ich solle aufmachen.

»Ich kann nicht aufmachen«, rief ich zurück, »sonst kommt der Pelzmärtl!«

Immer wieder rief meine Mutter: »Mach bitte auf! Ich bin es doch, die Mama.«

Da ich mich trotzdem nicht rührte, ging sie nach einiger Zeit weg, um meinen Vater zu suchen. Sie fand ihn jedoch nicht. Sie kehrte zurück und rief wieder unter meinem Fenster.

»Nein, ich mach nicht auf«, war meine erneute Antwort.

Ihr letzter Versuch war: »Stell dir vor, ich habe das Christkind getroffen. Das hat mir ein paar Mandarinen für dich mitgegeben.«

Bei dem Wort ›Mandarinen‹ bin ich wie der Blitz hervor unterm Bett, rannte in die Diele und schob einen Stuhl unter den Türsummer. Ich war nämlich noch zu klein, um hinaufzulangen. Und surr – habe ich auf den Summer gedrückt. Meine Mutter sauste die Treppe hoch, drückte mir im Vorbeirennen eine Tüte in die Hand und stürzte in die Küche – gerade noch rechtzeitig: Sie konnte die Gans noch retten.

Das ist heute unvorstellbar, dass man ein Kind mit einer Tüte Mandarinen so glücklich machen kann, dass es all seine Angst vergisst.

Es gibt auch noch eine andere Pelzmärtl-Geschichte.

Es muss im Jahr darauf gewesen sein. Meine Freundin und ihre Eltern waren bei uns. Alle saßen wir gemütlich im Wohnzimmer am Tisch. Wir Kinder waren allerdings schon mächtig aufgeregt, denn es war Pelzmärtltag. Gemeinsam wollten wir diesen Gast erwarten.

Auf einmal fiel meiner Mutter ein, dass sie noch etwas besorgen müsse. Ausgerechnet jetzt, wo der gestrenge Mann jeden Moment kommen konnte, war ich des mütterlichen Beistandes beraubt. Und richtig, sie war noch nicht lange weg, da geschah es: ein kräftiger Rumpler an der Tür. Wir Kinder zuckten zusammen und fassten uns Schutz suchend an den Händen. Mutig öffnete der Vater die Tür. Da stand er vor uns – der Pelzmärtl, in seinem feuerroten Gewand, mit weißem Pelz verbrämt, wie er es seinem Namen schuldig war. Der lange, weiße Bart verdeckte das halbe Gesicht.

Wir Kinder schielten ängstlich auf seinen Sack und auf die Rute. Der rotgewandete Gast forderte uns beide nacheinander auf zu beten. Zuerst betete ich, dann die Helga, wobei unsere Stimmchen mächtig zitterten. Der Kinderfreund lobte uns dafür.

»Helga, kannst du mir jetzt noch ein Lied singen?«, fragte er meine Freundin.

Während die überlegte, was sie wohl zum Besten geben könnte, vernahm ich, wie mein Papa dem Pelzmärtl zuraunte: »Tiefere Stimme!« Er wollte unseren Gast veranlassen, mit tieferer Stimme zu sprechen, damit wir Kinder nicht merkten, dass eine Frau in dem Kostüm steckte.

»Können vor Lachen!«, flüsterte die aber zurück.

Diesen Satz schnappte außer mir auch Helga auf. Da er geflüstert war, nahm sie an, der Pelzmärtl meine es gut mit ihr und wolle ihr heimlich einen Tipp geben, was sie singen solle. Sogleich sang sie mit weinerlicher Stimme: »Können vor Lachen, können vor Lachen.« Sie sang es nach selbst erdachter Melodie, in allen Tonlagen. Immer wieder: »Können vor Lachen, können vor Lachen.«

Tapfer hielt sie durch, trotz des Chaos, das um sie herum entstand. Kaum hatte...

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