Der alte Mann und das Netz - Mein Vater entdeckt das Internet

Der alte Mann und das Netz - Mein Vater entdeckt das Internet

von: Christian Humberg

Goldmann, 2015

ISBN: 9783641153236

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 601 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der alte Mann und das Netz - Mein Vater entdeckt das Internet



KAPITEL 1

World Wide Horst

»Und sonst so?«

Ich zuckte mit den Achseln, obwohl er das übers Telefon nicht sehen konnte. Vor meinem Bürofenster wehte der Herbststurm welke Blätter über den Großstadtrasen. Es war kalt. »Nichts Besonderes. Hab beruflich mit Spanien gemailt. Eine Kollegin sitzt jetzt dort in einem Verlag und …«

»Spanien? Du?«, unterbrach er mich fragend – und mit einer Skepsis, die deutlicher zu hören war als das Pfeifen des rheinhessischen Windes.

»Äh … Ja. Wieso nicht?«

»Geht das überhaupt?«, hakte er mit columboesker Beharrlichkeit nach.

Mit einem Mal ahnte ich, wohin die Reise ging, und seufzte innerlich. Diese Vater-Sohn-Telefonate führten wir regelmäßig und gern, meist mit einer dampfenden Tasse Kaffee in den Händen – mir boten sie eine willkommene Pause im stressigen Büroirrsinn, ihm einen weiteren Posten auf seiner Tag für Tag übervollen Pensionärs-To-do-Liste. Früher hielt ich den Spruch, Rentner kämen vor lauter Terminen zu nichts, für genau das: einen Spruch. Aber seit mein eigener Vater Rentner ist, habe ich ihn als absolute, humorfreie Wahrheit kennengelernt. Ich bin froh, wann immer mein Alter Herr noch einen Termin für mich hat.

»Warum soll das nicht gehen?«, fragte ich an diesem Morgen zurück. »Ich kann E-Mails in alle Welt schicken. Das ist im Prinzip wie mit Briefen, weißt du?«

War das simpel genug erklärt? Ich wusste schon seit einer ganzen Weile, dass mein frisch die siebzig erklommener Herr Vater mit dem Gedanken spielte, sich »jetzt endlich auch mal so ein Internet« anzuschaffen. Daher die Fragen, und daher wohl auch das plötzliche Interesse an meiner Spanienkorrespondenz. Aber im Gegensatz zu ihm hielt ich diese Idee für fürchterlich. Aus Gründen.

»Ja, schon«, lenkte er ein. Das Prinzip schien er verstanden zu haben. »Aber das dauert doch sicher ewig, bis man da Antwort bekommt.«

Argh! Der Vergleich rächte sich quasi postwendend. Ich beeilte mich, ihn wiedergutzumachen. »Nein, nein – E-Mails haben sozusagen keinerlei Postweg. In dem Moment, in dem ich sie hier bei mir abschicke, landen sie auch schon beim Empfänger.«

Erstauntes Gemurmel am anderen Ende der Leitung bewies, wie wenig er mir diese Geschichte glaubte. Schließlich schaffte nicht einmal ein Düsenjet die Strecke Rheinhessen–Spanien in Nullkommanichts.

Ich wurde übermütig. Das musste doch zu begreifen sein! »Vergleich’s einfach mit unserem Telefonat. Ich sage etwas, und du hörst es sofort. Bei E-Mails läuft das ganz ähnlich ab – Internet läuft ja auch übers Telefon.«

Arg vereinfacht ausgedrückt? Absolut. Aber ich kannte meinen Gesprächspartner. Mein Vater hatte noch nie viel Verständnis für moderne Technik gehabt; doch er wusste, dass man Internet-Rechner an Telefonbuchsen anschloss.

»Ach so!«, sagte er auch prompt, und ich hörte regelrecht, wie der Groschen fiel. Erleichtert atmete ich auf – nur um gleich darauf die Augen zu schließen. »Also musst du für Spanien eine andere Nummer vorwählen!«

Seit diesem denkwürdigen Telefonat sind einige Monate vergangen. Die Internetpläne kamen nie wieder auf. Bis heute.

»Guck mal.«

Mit lautem Rascheln landet das Wochenblättchen aufgeschlagen vor mir auf dem elterlichen Küchentisch. Als Nächstes kommt die Hand meines Vaters in mein Sichtfeld. Sie deutet auf einen kurzen, dick angestrichenen Artikel.

»Da. Da haben wir uns angemeldet.«

Stolz schwingt in seiner Stimme mit. Ich lese.

Senioren ins Netz – Einführungskurs für neugierige Best Ager.

Oh, oh! »Wie jetzt?«, sage ich ein wenig erschrockener, als es wohl fair wäre. »Wirklich?« Ich blicke auf.

Mein Vater steht neben mir und nickt. »Volkshochschule, acht Abende. Deine Mutter kommt auch mit. Damit ich im Kopf behalte, was ich da lerne.«

Er macht tatsächlich ernst. Na, das kann ja was werden … Seit Jahren spielt mein Alter Herr schon mit dem Gedanken, multimedial aufzurüsten und den Weg ins World Wide Web anzutreten. Bislang blieb es aber stets bei Absichtserklärungen und sehnsüchtigen Blicken in die Prospekte der Elektronikmärkte, und ich gestehe: Mir war das immer ganz recht so. Schließlich kenne ich den Mann seit knapp vier Jahrzehnten und weiß, wie … nun ja, wie sag ich’s am besten … wie wenig Geduld er mitunter für Dinge aufbringt, die nicht auf Anhieb so wollen wie er.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Der Mann kann alles. Das meine ich vollkommen ernst – alles. Ich habe ihn noch nie fliegen sehen, um nur ein Beispiel zu nennen, hege aber keinerlei Zweifel daran, dass er es hinbekäme, wenn er es nur verbissen genug wollte. Damit dürfen Sie mich jederzeit gern zitieren. (Und falls Sie mich ihm gegenüber zitieren sollten, wage ich zu vermuten, dass er mir zustimmt.)

Aber …

Na ja. Er sieht öfters nicht ein, dass a) manche Aspekte von »alles« länger dauern als andere und dass b) ein Fehler nicht zwangsläufig am Objekt liegt, sondern mitunter auch am Objektbediener. Kurz gesagt: Er kann ganz schön stur sein. Zu stur. Nicht aus böser Absicht oder so; er ist nur meist der festen Überzeugung, recht zu haben. Und wer sich unzweifelhaft im Recht fühlt, lässt sich nur schwer belehren. Schon gar nicht von technischen Geräten, die einfach nicht begreifen, was er von ihnen will. Geräten wie beispielsweise – so ahne ich – einem Computer.

Ich glotze also diese Volkshochschulanzeige im Wochenblatt an … und habe auf einmal ganz, ganz viele Einwände. Etwa den mit dem neuen Fernseher. Jahre ist das jetzt her, da hat er sich ein Flachbildschirm-TV gekauft. Neuestes Modell. Vom Feinsten. »Der schaltet nach zwanzig Minuten im Stand-by-Modus automatisch ab«, hatte der Techniker damals gesagt. »Dann müssen Sie ihn am Gerät wieder einschalten. Das geht nicht über die Fernbedienung.« Und ich weiß heute noch, wie mein Altvorderer knapp eine Stunde später auf der Couch saß und auf die Fernbedienung einschlug wie das wild gewordene HB-Männchen, weil das »teure Scheißding« schon »scheißkaputt« sei.

Ich erinnere mich an die Autofahrt nach einem gemeinsamen Kinobesuch, während der er sich einfach nicht davon überzeugen ließ, dass er den eben gesehenen Spielfilm – Terminator 2 – noch nicht aus dem Fernsehen kannte. Dass er den ersten Teil meinte, glaubte er mir erst, als wir zuhause waren, ich im Kino anrief und die Dame im Kassenhäuschen anflehte, es ihm zu bestätigen. Ich höre sie heute noch lachen.

Und der Mann will jetzt ins Internet? In die Welt der Viren und Pishing-Mails? In das Reich der Trojaner und anderer Malware? Wie erklärt man jemandem PayPal und Online-Banking, dem schon Kreditkarten zu neumodisch (lies: suspekt) waren? Sollte vor der Lektion Skype nicht die Lektion Smartphone kommen? Wie dünn darf ein Geduldsfaden maximal noch sein, damit man vor Frust kein Harakiri begeht, wenn sich der PC aufhängt und man die Eniki-Taste nicht findet? Und: Gibt es eigentlich auch Firewalls, die Rechner vor ihren Besitzern beschützen?

Ich ahne Schlimmes. Wirklich. Wenn mein Alter Herr ins Netz geht, dann hat der DAU – der Dümmste Anzunehmende User – ausgedient. Dann entsteht eine ganz neue Spezies: der SAU, der sturste anzunehmende User. Man fragt sich, was Charles Darwin dazu gesagt hätte.

»Gut, oder?«, sagt jedenfalls mein Vater und lächelt mich an. Seine Begeisterung ist echt. Er glaubt tatsächlich, ein neues buntes Hobby für sich gefunden zu haben und endlich mit der Zeit zu gehen. Aber meine Bedenken sind weit größer als sein Lächeln. Ich befürchte, dieser spezielle Gang mit der Zeit führt über kurz oder lang in den Wahnsinn – entweder ihn oder das Internet selbst. Kommt wohl darauf an, wer von beiden den größeren Dickkopf mitbringt.

Kurz gesagt: Das hier dürfte übel werden.

Und ganz schön lustig …

Ich hebe den Kopf. Mein Vater steht neben mir, als warte er auf ein Lob.

»Weißt du, was?«, höre ich mich sagen. »Finde ich gut. Ich bin dabei.«

Die Dozentin kann nicht mehr. Man sieht es ihr an, und man versteht sie gut. Dennoch gibt sie sich geduldig. »Horst«, sagt sie immer wieder und blickt ihn aufmunternd an, während rings um uns das wohlwollende Gelächter der übrigen Kursteilnehmer von den Wänden des Seminarraumes widerhallt. »Horst.« Es fällt ihr schwer, nicht in das Lachen einzustimmen, aber es gelingt. Noch.

Mittwochabend, kurz nach neunzehn Uhr. Die Straßen unserer ländlichen Kleinstadt leeren sich rapide und werden bis zum zweiten Hahnenschrei auch leer bleiben. Laternenlicht spiegelt sich in Regenpfützen. Auf dem Parkplatz streift eine einsame Katze um wartende Autos. Ob sie vielleicht weiß, wie man mit dem Internet Explorer SPIEGEL Online wiederfindet?

Der Raum, in dem Senioren ins Netz passiert, dient tagsüber dem hiesigen Gymnasium als Unterrichtszimmer. Die PCs sind anständig in Schuss, die Ausstattung ist gut. Da wir alle schon jenseits des Abituralters sind, dürfen wir sogar am Platz Kaffee trinken, was ich bedenklich finde, aber mag.

Auf einer breiten Leinwand am vorderen Raumende sehen wir, was Beate, die Dozentin, uns in der heutigen Kursstunde beibringen will. Nämlich, wie man im Internetbrowser sogenannte Lesezeichen setzt, also schnell und mühelos zu den Seiten zurückkehrt, die man öfters besuchen möchte. Der...

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