Der Himmel meines Großvaters - Roman

Der Himmel meines Großvaters - Roman

von: Stefan Hertmans

Carl Hanser Verlag München, 2014

ISBN: 9783446246935

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 4962 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Himmel meines Großvaters - Roman



 

 

 

Die früheste Erinnerung an meinen Großvater führt mich an den Strand von Ostende – ein sechsundsechzigjähriger Mann im dunkelblauen Anzug macht es sich mit seiner Frau in einer flachen Mulde bequem, die er mit der blauen Strandschaufel seines Enkels ausgehoben hat. Hinten hat er den Rand etwas erhöht und rundgeklopft, so dass sie geschützt sind gegen den ablandigen Augustwind, der unter hohen Nebelschleiern über die sich zurückziehende Wellenlinie heranweht. Sie haben die Schuhe und Socken ausgezogen und genießen, sanft mit den Zehen spielend, die Kühle des tiefer liegenden, feuchten Sandes – für mich, das sechsjährige Kind, eine ungewohnte Hemmungslosigkeit des stets in Schwarz, Grau oder Dunkelblau gekleideten Paars. Selbst hier am Strand, ungeachtet der Hitze, hat mein Großvater den Borsalino auf dem fast kahlen Kopf, trägt ein blendend weißes Hemd und eine schwarze, ungewöhnlich große Schleifenkrawatte mit zwei langen herabhängenden Bändern. Von fern sieht es aus, als hätte er sich die Silhouette eines schwarzen, flügelspreizenden Engels um den Hals geknotet. Meine Mutter nähte ihm diese merkwürdigen Schleifen nach seinen Anweisungen, ich habe ihn nie anders gesehen als mit einer dieser frackschößigen Krawatten; er muss Dutzende davon besessen haben, eine liegt hier irgendwo zwischen meinen Büchern, ein Relikt aus einer fernen, verlorenen Zeit.

Nach einer halben Stunde zieht er dann doch sein Jackett aus, entfernt die goldenen Manschettenknöpfe und steckt sie in die Tasche, rollt die Hemdsärmel auf, besser gesagt, schlägt sie zweimal sorgfältig um, bis exakt unter die Ellenbogen, jeder Umschlag so breit wie die gestärkte Manschette, und er sitzt da, als posierte er, das ordentlich gefaltete Jackett mit dem im Mittagslicht glänzenden Seidenfutter über dem Arm, für ein impressionistisches Porträt. Sein Blick verliert sich im fernen Gewimmel der Menschen, der kreischenden, planschenden Kinder, der schreienden und lachenden Ausflügler, die Fangen spielen, als wären sie wieder jung. Die Szenerie gleicht einem Gemälde von James Ensor, nur in Bewegung, dabei kann er die Bilder des gotteslästerlichen Ostendener mit dem englischen Namen auf den Tod nicht ausstehen. Er hält Ensor für einen »Klakpotter«, und Klakpotter gehören wie die Klepsjiezen und das Kroelkesvolk zur so ziemlich schlimmsten Sorte Mensch, die mein Großvater kennt. Klakpotter sind alle modernen Maler; sie haben keine Ahnung von der Feinmalerei, von den Subtilitäten des edlen Malerhandwerks früherer Zeiten. Sie klecksen vor sich hin, achten die Gesetze der Anatomie nicht, wissen nicht, wie man eine Glasur aufbringt, mischen die Farben schon lange nicht mehr eigenhändig, benutzen Terpentin, als wäre es Wasser, haben keine Ahnung von den Geheimnissen eines selbstzerriebenen Pigments, vom feinen Leinöl oder der Mischung des Schlussfirnisses – kein Wunder, dass es keine großen Maler mehr gibt.

Der Wind frischt auf, mein Großvater nimmt die Manschettenknöpfe aus der Jackentasche, krempelt die Ärmel herunter, knöpft das Hemd zu, schlüpft in sein Jackett und hilft seiner Frau, sich die schwarze Spitzenmantille sorgfältig über die Schultern und den Knoten der dunkelgrauen Haare zu drapieren. »Komm, Gabrielle«, sagt er, und sie erheben sich, nehmen die Schuhe in die Hand und machen sich an den etwas mühsamen Aufstieg zur Promenade hinauf. Noch sind seine Hosenbeine bis zu einer Höhe von ungefähr fünfzehn Zentimetern aufgerollt, und ihre schwarzen Strümpfe stecken in den Schuhen, weshalb ich vier weiße Waden sehe, die sich unter den dunklen Torsi gleichmäßig und träge über dem Sand bewegen. Sie gehen auf die blaue Steintreppe zu, die zum Deich hinaufführt, wo sie sich auf die nächste Bank setzen, in aller Seelenruhe den Sand von den Füßen klopfen, die schwarzen Strümpfe über die alabasterweißen Füße streifen und die Schuhe mit etwas zuknoten, was damals »Nestelband« hieß und noch nicht Schnürsenkel.

 

 

 

Ich selber renne, als mein Tunnelsystem für die großen Steinmurmeln – meine geliebten bonketten – einstürzt, zitternd zu meiner Mutter. »Das Meer kommt zurück«, sagt sie, während sie mich warm rubbelt und über den Dünen hinter uns die ersten Quellwolken auftauchen. Der Wind scheuert über die Dünenköpfe, als wollte er das Dünenhaar zerzausen; es ist, als wappneten sich große, sandfarbene Tiere gegen die nahende Nacht.

Mein Großvater hat schon den Spazierstock aus lackiertem Ulmenholz in der Hand und wartet mit leichter Ungeduld darauf, dass wir endlich alle die Promenade erreicht haben. Dann geht er voraus; er ist nicht groß, ein Meter achtundsechzig, wie ich ihn oft sagen hörte, dennoch machen ihm die Menschen Platz. Den Kopf hoch erhoben, die schwarzschimmernden Stiefeletten tadellos, die Hose mit scharfer Bügelfalte versehen, auf der einen Seite seine schweigsame Frau am Arm und auf der anderen den Spazierstock in der Hand – so geht er vor uns her, dreht sich ab und zu nach uns um und ruft, dass wir noch den Zug verpassen werden, wenn wir weiter so trödeln. Sein Gang ist der eines aus der Armee entlassenen Soldaten, das heißt, er lässt nicht plump zuerst die Ferse aufs Pflaster knallen, sondern tritt mit dem Fußballen auf, wie es sich gehört, seit mehr als einem halben Jahrhundert. Dann verschwindet er aus meiner Erinnerung, und ich, überwältigt von der plötzlich aufleuchtenden Klarheit dieser längst vergangenen Szene, werde so müde, dass ich auf der Stelle einschlafen könnte.

 

Übergangslos rückt das nächste Bild meines Großvaters vor mein inneres Auge, das Bild eines schluchzenden Mannes – er sitzt an dem kleinen Tisch, an dem er malte und schrieb, bekleidet mit seinem grauen Kittel, auf dem Kopf den schwarzen Hut. Gelbes Morgenlicht fällt durch das kleine, weinumrankte Fenster; in den Händen hält er eine der vielen Reproduktionen, die er oft aus Kunstbüchern riss und die ihm als Vorlagen für seine Kopien dienten (er pinnte die Reproduktion auf ein Brett, das er mit zwei Wäscheklammern an der Malerpalette befestigte); ich kann nicht erkennen, was auf der Illustration in seiner Hand abgebildet ist, aber ich sehe Tränen über seine Wangen rollen und höre ihn leise murmeln. Ich war die drei Stufen zu seinem kleinen Malzimmer hinaufgesprungen, um ihm zu erzählen, dass ich gerade das Skelett einer Ratte ausgegraben hatte. Jetzt ziehe ich mich schnell zurück, schließe still die Tür zu seinem Zimmer, der Treppenbelag dämpft meine Schritte, schleiche mich aber, als er später auf einen Kaffee herunterkommt, wieder hinauf. Die Abbildung liegt auf dem Tisch und zeigt das Gemälde einer nackten Frau, die mit dem Rücken zum Betrachter vor einem roten Vorhang auf einem Sofa oder Bett liegt, eine schlanke Frau mit dunklen Haaren, ihr friedlich verträumtes Gesicht kann man im Spiegel sehen, den ihr ein Cupido mit einem blauen Band über der Schulter vorhält, besonders betont sind ihr schlanker, nackter Rücken und ihr runder Hintern. Mein Blick wandert zu den schönen Schultern, den gelockten, feinen Härchen im Nacken hinauf, und danach erneut zu dem fast obszön dem Betrachter zugekehrten Po; erschrocken lege ich die Abbildung zurück und renne hinunter in die Küche. Dort singt mein Großvater für meine Mutter ein französisches Lied, das er noch vom Krieg her kennt.

 

*

 

Meine Kindheit ist überwuchert von seinen Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg, immer und immer wieder dieser Krieg: irgendwelche Heldentaten auf schlammigen Feldern, Bombenhagel, Gewehrschüsse, schreiende Schemen im Dunkel und französisch gebrüllte Befehle, das alles schilderte er von seinem Schaukelstuhl aus mit einem unbeirrbaren Gespür für Effekte – der Stacheldraht war allgegenwärtig, Schrapnelle flogen uns um die Ohren, Maschinengewehre ratterten, Leuchtkugeln wanderten in hohem Bogen übers dunkle Firmament, Mörser und Haubitzen, Tausende von Bomben und Granaten wurden abgefeuert, während die Tanten in stupider Bewunderung nickten und am Tee nippten und mir von diesen Erzählungen nur die unbestimmte Ahnung blieb, mein Großvater müsse ein Held gewesen sein, und zwar in Zeiten, die mir so fern lagen wie das Mittelalter, über das ich auf der Schule einiges gelernt hatte. Dabei war er für mich sowieso schon ein Held, er gab mir Fechtunterricht, schliff meine Taschenmesser, brachte mir bei, wie man Wolken zeichnet, indem man sanft mit einem Radiergummi über eine Zeichnung reibt, die man mit einem Stück Kohle gemacht hat, oder wie man die unzähligen Blätter eines Baumes wiedergibt, ohne sie alle einzeln malen zu müssen – für ihn die wahren Geheimnisse der Kunst.

Geschichten werden erzählt, um vergessen zu werden, kehren sie doch immer wieder zurück, auch die merkwürdigsten Geschichten über Kunst und Künstler. So wusste ich zum Beispiel schon, dass der alte Beethoven deshalb so besessen an seiner Symphonie arbeitete, weil er taub war, doch eines Tages erfuhr ich zu meiner Bestürzung, dass er sich, wenn er in die Arbeit versunken war, nicht die Mühe machte, das Klosett aufzusuchen, sondern sich einfach neben seinem Klavier erleichterte. Und so sah ich jedes Mal, wenn an einem langweiligen, langen Sonntagnachmittag die Eltern und Großeltern mit schläfrig nickenden Köpfen auf dem braungeblümten Sofa saßen und im Radio etwa das wunderschöne Adagio aus der Pastorale ertönte, einen Berg Scheiße neben einem glänzend lackierten Spinett, während der Kuckuck zwischen den Holzbläsern und den Geigen aus dem Wienerwald herausrief und mein Großvater angestrengt die Augen geschlossen hielt, weil seine Ehrfurcht vor dem romantischen Genie es in solchen Momenten nicht duldete, die Banalität seiner...

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