Was ist «gute» Demenzpflege? - Demenz als dissoziatives Erleben – ein Praxishandbuch für Pflegende

Was ist «gute» Demenzpflege? - Demenz als dissoziatives Erleben – ein Praxishandbuch für Pflegende

von: Christoph Held

Hogrefe AG, 2013

ISBN: 9783456952628

Sprache: Deutsch

148 Seiten, Download: 1760 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Was ist «gute» Demenzpflege? - Demenz als dissoziatives Erleben – ein Praxishandbuch für Pflegende



Das «dritte» Auge und Ohr entwickeln

Viele Pflegende und Angehörige von Patienten mit einer Demenz sind über die Jahre der Betreuung wahre Künstler einer hilfreichen, aber diskreten Unterstützung geworden und können ihre Patienten mit Zuwendung, nonverbaler Kontaktaufnahme, manchmal mit scheinbar belanglosem Plaudern, mit Vertrauen und Schonung erreichen. Sie haben eine Art drittes Auge oder drittes Ohr für die Bedürfnisse der Betroffenen entwickelt und können bei ihnen verweilen, ohne ständig etwas zu fragen, zu wollen oder zu erklären. Weil ihnen das dissoziative Erleben bei Demenz geläufig ist, können sie im Alltag am meisten helfen, indem sie den «Filmriss», den die Betroffenen erleben, nicht ständig wieder «zusammenkleben» wollen. Sie akzeptierten dieses Geschehen und fordern weder ein Echo noch eine Bestätigung ihrer Unterstützung.

Weil die Pflegenden darüber hinaus gemerkt haben, dass dissoziatives Erleben auch mit Angst, Wahn, Halluzinationen und Unruhe verbunden sein kann, wissen sie um die Wirkung von Zuwendung und Begleitung, Schutz und Geborgenheit.

Kann die Qualität der Demenzpflege erfasst werden?

Dieses empirische Wissen der Pflegenden, das wir in diesen gesammelten Beiträgen ausbreiten wollen, entzieht sich häufig einer konzeptuellen Anwendung und einer wissenschaftlichen Auswertung. Die wichtige und berechtigte Frage nach einer «guten» Demenzpflege kann deshalb nicht eindeutig, nicht mit «Evidenz» beantwortet werden. Auch wissenschaftliche Studien mit scheinbar objektiven Kriterien, wie zum Beispiel die Menge der verabreichten Medikamente oder die «Erfassung» des Gesichtsausdrucks, lassen keine zwingenden Schlüsse zu. Auch die «Zufriedenheit» der Angehörigen ist kein wirklich verlässlicher Parameter. Auch bestimmte Wertehaltungen, wie sie häufig in Pflegeleitbildern festgehalten werden, garantieren in keiner Weise eine «gute» Demenzpflege. Wer träte nicht dafür ein, demenzkranken Menschen wertschätzend oder auf Augenhöhe zu begegnen? Auch Instrumente zur Qualitätssicherung mit entsprechenden Zertifikaten, die im Lift oder in der Eingangshalle der Pflegezentren hängen, können – wir haben es anlässlich diverser schlimmer Vorkommnisse erlebt, die sich trotz solcher Zertifikate ereignen konnten – eine «gute» Demenzpflege nicht garantieren.

Auf das (schwierige) Zusammenleben kommt es an

Jenseits dieser Qualitätsdebatte gibt es in den Pflegeinstitutionen noch so etwas wie ein Zusammensein und sogar Zusammenleben der Bewohner mit den Pflegenden. Diese persönlichen Beziehungen, in denen gleichermaßen und «auf beiden Seiten» Freud und Leid erlebt werden, entziehen sich oft weitgehend den Konzepten, Strategien, Leistungserfassungen und Studien. Wie aus den verschiedenen Kapiteln ersichtlich sein wird, ist es kein einfaches, sondern ein recht anstrengendes Zusammenleben. Oft fragen wir uns, wie ein Angehöriger oder eine Dauerpflegerin zu Hause all das alleine bewältigen kann – auch wenn die öffentliche Meinung zunehmend die Pflege in den Heimen negativ beurteilt. Auch in der Politik wird aus naheliegenden Gründen einseitig nur noch das Hohelied vom «Zu-Hause-bleiben-Können» gesungen. Die meisten Angehörigen sind aber nach wie vor sehr dankbar, wenn diese komplexen Aufgaben auf mehrere Schultern verteilt werden können.

Auch wenn die Pflegenden im Alltag nach all den Prinzipien arbeiten, über die wir in den einzelnen Kapiteln schreiben, werden sie zum Beispiel nicht selten von einigen Bewohnern kritisiert, beschimpft, an den Haaren gezogen oder sogar am Hintern angefasst. Ständig müssen sie aufpassen, ob die BewohnerInnen einen gefährlichen Gegenstand, wie zum Beispiel ein Feuerzeug, ergreifen, die Blätter einer Zimmerpflanze verzehren oder mit der Faust in den Spiegel über dem Waschbecken schlagen, in dem sie sich offenbar als fremde Personen wahrnehmen. Demenzkranke Menschen pflegen kann wirklich sehr belastend sein und noch belastender, wenn diese Steigerungsform überhaupt angebracht ist, ist für die Pflegenden oft noch die Dokumentation dieser zunehmenden Not, die täglichen Eintragungen über die Bewohner, die sich im Vergleich zu ihrem früheren Leben so sehr verändert haben.

Auf der anderen Seite erleben wir unsere Demenzstationen aber auch täglich als Oasen der Entschleunigung, der Ruhe, der Geborgenheit, der heiteren Geselligkeit und der gegenseitigen Anerkennung. «Gute» Demenzpflege würde dann für die Pflegenden in erster Linie bedeuten, eine solche Welt auch für sich selbst akzeptieren zu können und sich als Pflegende zum Beispiel nicht schnell und hastig zu bewegen, nicht mehrere Dinge auf einmal zu erledigen, nicht beim Ankleiden des Hemdes schon an die Schuhe zu denken (so etwas merkt der Bewohner), nicht so laut zu rufen oder gar herumzuschreien und vor allem keine schlechte Stimmung und das Gefühl von ständigem Gestresstsein zu verbreiten.

Wirklichkeit der Betroffenen versus Ökonomie

Das vorangehend Beschriebene ist allerdings leichter gesagt als getan. Denn in den letzten Jahren haben in der Pflege unter dem Mantel der Qualitätssicherung und Kostentransparenz ähnliche Managementwerkzeuge Einzug gehalten wie in der stressgewohnten Unternehmenswelt. Betreuungsleistungen, die sich zuvor aus einem therapeutischen Selbstverständnis heraus gespeist haben, werden bis hin zu den kleinsten Unterstützungen für die Bewohner, wie zum Beispiel das Verrechnen der Leistung, einen Apfel in mundgerechte Stücke zu zerteilen, quantifiziert und rationiert. Ein Heer von Kontrolleuren hat die Aufgabe, eine von den Kostenträgern der Pflege unterstellte Ineffizienz nachzuweisen. Zahlreiche Pflegende sind in unzähligen Sitzungen mit Prozessbeschreibungen, Planung und Dokumentation des eigentlich Selbstverständlichen beschäftigt, sodass groteskerweise nur noch wenig Zeit für die Bewohner bleibt. Man hat in einigen Pflegezentren manchmal den Eindruck, dass die Dokumentation mehr Zeit einnimmt als die Pflege selbst. «Wozu das alles?», fragen wir uns oft. «Es ist doch nicht so schwer. Wir merken doch von uns aus, wann und wo die Leute Hilfe brauchen.» Für die Menschen mit Demenz bedeutet es jedenfalls einen katastrophalen Rückschritt, wenn durch diese Entwicklung die Grundsätze einer angepassten, kreativen und therapeutisch wirksamen Demenzpflege verloren gehen.

Zitierte und weiterführende Literatur
Böhm E. (2001): Psychobiographisches Pflegemodell nach Böhm. Wien: Maudrich.
Folstein M. F. (1975): Mini-mental-state: A practical method for grading the cognitive state oft patients for the clinician. Journal of Psychiatric Research, 1975; 12: 189–198.
Feil N. (2005): Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. Reinhardts Gerontologische Reihe, Bd. 16. München: Ernst Reinhardt Verlag.
Held Chr., Ermini-Fünfschilling (2004): Das demenzgerechte Heim, 1. Aufl. Basel: Karger. Kitwood T. (2000). Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, 1. Aufl. Bern: Verlag Hans Huber.
Kitwood T., Bredin K. (1992): Towards a theory of dementia care: Personhood and well being. Ageing Society, 1992; 112: 269–287.

Kategorien

Service

Info/Kontakt