Adolf Muschg - Lebensrettende Phantasie

Adolf Muschg - Lebensrettende Phantasie

von: Manfred Dierks

Verlag C.H.Beck, 2014

ISBN: 9783406659638

Sprache: Deutsch

312 Seiten, Download: 5225 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Adolf Muschg - Lebensrettende Phantasie



II      LETZTE SCHULJAHRE UND STUDIUM


Weitere Urszenen 1950–1958


Anwältin des «Anderen»: Fanny Moser


Noch entfernt sich Friedrich Adolf von unserem Zürichseeufer nur, indem er täglich die sieben Kilometer zum Literargymnasium Zürichberg radelt – um dort im selben Milieu wieder anzukommen. Das Literargymnasium ist renommiert, gilt als streng und ist eine reine Jungenschule. Latein und Griechisch sind obligatorisch, Englisch und Französisch lernt man sowieso. Von hier kommt ein Großteil vom intellektuellen und künstlerischen Nachwuchs der Stadt. Man studiert dann nach der Matura ein Haus weiter an der Uni, wird gegebenenfalls selbst wieder Hauptlehrer am Gymnasium oder verteilt sich auf die anderen Bildungsinstitutionen. Dass einer verkehrtherum aufgehängt ist, wird hier in der Regel rechtzeitig erkannt und korrigiert sich ganz von selbst.

Die Stadtgesellschaft, in der Friedrich Adolf aufwächst, trägt nach dem so glücklich bestandenen Krieg viele Züge der Beharrung und der Enge – während unterhalb des so gelebten Alltags aber der Prozess der Modernisierung anläuft. Doch Reformideen begegnen einem Zürcher Gymnasiasten nicht. Auch die Tagespolitik reicht nicht bis in die Schule.

Was ist zu berichten? Einige seelische und kulturelle Bildungserlebnisse – nicht alle können heute noch von Muschg erinnert werden, manche sind ja auch nicht mitteilbar, und vielleicht sind darunter gerade die wichtigsten.

Friedrich Adolfs Faszination durch Spuk hat früh angefangen. Hedwig, die hochneurotische Halbschwester und frühpensionierte Lehrerin, fürchtete sich vor Geistererscheinungen – und kaum hatte sie sich über ihre häuslichen Spukgeräusche etwas beruhigt, zog sie schon wieder in eine neue Wohnung. Dort lauerten dann wiederum lärmende Jenseitswesen, zu deren Abwehr sie ihren zwölfjährigen Halbbruder zu sich holte und die ersten Nächte bei sich schlafen ließ. Tatsächlich wurde er (in Sax hat er die Episode später aufgegriffen) durch Klopfgeräusche aus dem Schlaf geschreckt, dann war Stille, doch er war kaum wieder eingenickt, als sich das Klopfen wiederholte, ein Wirbel wie von trommelnden Knöcheln. Am Ende war es die Heizung gewesen.

Das alles wäre ohne Belang, hätte er nicht in der Zürcher Zentralbibliothek unter «Spuk» nachgeschlagen. Er stieß dabei auf den in der Schweiz berühmten Fall des Melchior Joller, eines Advokaten und liberal-aufgeklärten Politikers in Stans, der es bis zum Nationalrat gebracht hatte. Im Jahre 1861 hatte es in Jollers Haus drastisch zu spuken angefangen, und das hatte sich zu einem solch lärmenden Terror ausgewachsen, dass die Familie Joller ihr Haus schließlich aufgeben musste. Das Besondere an diesem Fall war, dass es zahlreiche renommierte Zeugen gegeben hatte, die den Spuk beglaubigten. Mit diesen Vorgängen befasste sich auch später noch der angesehene Psychiater Eugen Bleuler vom Burghölzli. Friedrich Adolf konnte das alles nachlesen – auch Jollers penibles Spuk-Tagebuch – in einer wissenschaftlichen Publikation, die 1950 gerade herausgekommen war: Spuk. Irrglaube oder Wahrglaube. Eine Frage der Menschheit von Dr. Fanny Moser. Mit einer Vorrede von Prof. C. G. Jung.

In diesem Buch, das sich vor allem als Dokumentation verstand, wurde der Jollersche Spuk (und manch anderer) als Tatsache anerkannt. Die Autorin Fanny Moser – von Haus aus eine renommierte Biologin – wusste allerdings keine physikalische Erklärung dafür und hielt sich, obschon vom Faktum überzeugt, mit Spekulationen darüber zurück. C. G. Jung, der längst weltberühmte Zürcher Psychologe, ging allerdings in seiner Vorrede weiter. Spuk war für ihn eine noch unzureichend erforschte Manifestation des Unbewussten – wie beispielsweise die Exteriorisierung unbewusster Vorgänge. (Damit hatte er Sigmund Freud einmal erschreckt: Als er sich sehr über ihn geärgert hatte, dies sich aber nicht zugab, ertönte ein zweifaches Krachen in Freuds Bücherschrank – Veräußerung einer unbewussten Aggression.) Im Übrigen vertrat Jung hier seine Grundthese, dass gerade der Rationalismus selbst sein psychisches Gegenstück produziere: die okkulten Phänomene. Das eigentliche Wesen und die Spannweite seiner Seele habe der Mensch einfach noch nicht erfasst.

Was kann ein Gymnasiast aus diesem Buch profitiert haben? Gewiss nicht Jungs Erkenntnistheorie. Aber doch den Hinweis auf die begrenzte menschliche Welterkenntnis und auf eine Jenseitsregion, das Unbewusste, in der auch der Spuk sein Existenzrecht hatte. Zürich hat durchaus eine okkultistische Tradition, die sich hinter dem Rücken des reformierten Protestantismus – als sein Anderes, als sein Schatten – herausgebildet hat. Der angesehene Schizophrenie-Forscher Bleuler ist ein Beispiel dafür und natürlich C. G. Jung, der den Okkultismus in seine Seelenreligion einbezogen hat. Schon sein Großvater mütterlicherseits, Samuel Preiswerk, wortmächtiger Pfarrer von Sankt Leonhard in Basel, pflegte den Umgang mit Geistern. Schrieb er am Sonntagmorgen an der Predigt, fuhren sie höhnisch dazwischen und diktierten ihm sexuellen Unflat in die Feder.

Noch als Student befasst sich Adolf Muschg mit Okkultem, meist anhand jener Studie der Dr. Fanny Moser, die einen nüchtern wissenschaftlichen Zugriff aufs Geisterreich hat. Der Grund für dies ungewöhnliche Interesse Muschgs liegt allerdings nicht in seiner Lektüre, sondern in einem bestimmten, abgeschlossenen Milieu, in das man den jungen Studenten eingeladen hatte. Es ist die Geistige Loge Zürich. Diese 1948 von dem Gärtner-Ehepaar Brunner gegründete Sekte gehört zu den Neuoffenbarern und ist eine ungenierte Mischung aus Pfingstlertum, Spiritismus, Mesmerismus und Bibelexegese. Sie versteht sich als Wiederanknüpfung ans Urchristentum und seine Offenbarungen. Diese Offenbarungen werden hier allerdings spiritistisch hergestellt. Man verfügt dazu über das Tieftrancemedium Beatrice, aus dem ein Jenseitsgeist namens Josef spricht – meist über die letzten Dinge. Manchmal geschehen auch okkultistische Imponierwunder: So erhebt sich vor Muschgs Augen ein Tisch und schwebt, unzweifelhaft aus eigenem Vermögen, fast bis zur Zimmerdecke.

Sekten haben Konjunktur im Nachkrieg (so kommen auch immer mehr Deutsche in diese Schweizer Loge), und das spirituelle Experiment eines Studenten Mitte der 50er-Jahre wäre heute kaum der Rede wert – wenn nicht daran erkennbar würde, dass Muschg auf seine Weise in der väterlichen Spur bleibt: Die spätgeborenen Urchristen der Loge ähneln dem evangelikalen Milieu, aus dem der Vater stammt, und besonders natürlich dem Konventikel im eigenen Elternhaus. Muschg, der beides hassen gelernt hat, gerät nun doch wieder in eine gleichartige Bahn. Die pietistische Erbschaft lässt sich nicht so leicht abschütteln. Wie oft er bei der Loge zu Gast war, ist heute nicht mehr erinnerbar. Doch unterschritt das dort verkündete Jenseits vermutlich bald die spirituellen Ansprüche eines Abiturienten, dann Studenten – Fanny Moser, als ausgewiesene Wissenschaftlerin, hatte doch Besseres zu bieten. An sie hält er sich noch einige Zeit.

In Muschgs spätem Roman Sax (2010) – er spielt mit Spuk und Totenwiederkehr, aber auch mit Phantasien aus dem zeitlosen Unbewussten – steht ein literarisches Denkmal für Fanny Moser. Sie kommt aus guten Gründen darin vor: als wissenschaftliche Gutachterin für ein Spukhaus, das jenem historischen des Melchior Joller in Stans ähnelt. Als sie aber dem Geheimnis des Hauses sehr nahegekommen ist, stirbt sie plötzlich – und das dunkle Gemenge aus Blutrache, Schuldphantasien und Depression, aus Jenseitsahnungen und Psychoanalyse bleibt ungeklärt. Doch Fanny Moser hat jedenfalls geholfen, diese Themen im Roman zu etablieren, dafür war gerade sie die richtige Spuk-Gutachterin gewesen, denn mit ihr als historischem Vorbild öffnet sich der Blick nicht nur auf den Okkultismus, sondern auch auf die Frühzeit der Psychoanalyse. Okkultes und dann die Psychoanalyse bilden geistige Felder, in denen der Student Muschg sich umsieht. Was genau er dort sucht, weiß er noch längst nicht zu artikulieren, früh aber hat er schon einen so undeutlichen wie entschiedenen Namen dafür: das Andere.

In den letzten Schuljahren ist Fanny Moser (1872–1953) für den Zürcher Gymnasiasten eine ideale Repräsentantin für das ganz Andere. Sie ist die Tochter des legendären Schaffhauser Uhrenfabrikanten Heinrich Moser, der den gesamten Uhrenhandel in Russland beherrschte und, als er starb, seine junge Witwe, Fannys Mutter – auch sie hieß schon Fanny – zu einer der reichsten Frauen Europas machte. (Ihr hing allerdings auch an, sie habe ihn zu diesem Zwecke umgebracht.) Auf ihrem Schlossgut Au am Zürichsee empfing sie vielfältige europäische Prominenz, auch Bleuler, Freud und Jung verkehrten hier. Fanny Moser, die Ältere, hatte Gründe genug, ein hysterisches Symptom auszubilden – und als es sich einstellte, war es ein unwillkürliches Schnalzen mitten in der Rede, das dem Balzen des Auerhahnes glich. Nach einer Reihe vergeblicher...

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