Religiosität im Alter

Religiosität im Alter

von: Helmut Bachmaier, Bernd Seeberger

Wallstein Verlag, 2022

ISBN: 9783835348172

Sprache: Deutsch

294 Seiten, Download: 1967 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Religiosität im Alter



PETER GROSS


Wiederkehr der Religion?


Verlängerte Lebenszeit – Verlust der Ewigkeit


I.


Nicht ohne Grund wird von einer Wiederkehr der Religion im dritten Jahrtausend geredet. In schneller Folge werden Symposien veranstaltet, Buchreihen gegründet und interreligiöse Dialoge angestoßen. Religion füllt ganze Abteilungen in den Buchhandlungen, der emeritierte Papst Benedikt schreibt Bestseller, der Dalai Lama ziert Frontseiten. Und der Islam, der noch vor wenigen Jahrzehnten ein orientalisches Märchen war, ist buchstäblich unter uns gekommen.

Die Rede von einer Wiederkehr hat etwas Tröstliches. Etwas lange Zeit Verdrängtes und Überwundenes scheint den Platz wieder zu besetzen, den ein überforderter Mensch selber einzunehmen gewillt war. Gleichwohl ist die Rede von einer Wiederkunft seltsam ungenau. Was ist damit gemeint? Genügt es, von einer Wiederkehr zu reden, wenn der Papst Hunderttausende begeistert? Reicht es, wenn an überirdische Kräfte und kosmische Energien geglaubt wird und die naive Standardfrage der religionswissenschaftlichen Untersuchungen, ob es höhere Wesen gibt, von einer Mehrheit mit Ja beantwortet wird? Sind die Kreuzlein an den Hälsen der Popstars und Fussballer Ausdruck einer neuen Religiosität? Oder ist die Frage nach einer Wiederkehr nicht ernster, nüchterner und radikaler die Frage nach einer Wiederkehr jener Religion, die Europa 2000 Jahre lang geprägt hat, nach einer Wiederkehr der Inhalte und der Fundamente des Christentums? Und zwar bei uns, im alten Europa? Und scheint nicht, mit dem Älterwerden der Bevölkerung und dem Wegsterben jener Altersgruppen, die noch im streng religiösen, im christlichen Milieu groß geworden sind, die überkommene Religion, das Christentum, zu verblassen?

II.


Im Zentrum der christlichen Religion steht die Erlösungsvorstellung. Die nicht enden wollenden Versuche, die Weltreligionen an einen Tisch zu bringen, sind Ausdruck von schwer zu vereinbarenden Eigenheiten der religiösen Bekenntnisse. Alle Religionen bearbeiten das dem Menschen Unverfügbare, insbesondere das Sterben und den Tod, und versehen es mit Trost. Vergegenwärtigen wir die christliche Heilsbotschaft, leuchtet in ihrer Mitte die Erlösungsvorstellung. Sie ist etwas ebenso Einzigartiges wie Eigentümliches. Sie ist, wie es Hans Urs von Balthasar genannt hat, das Blutzentrum der christlichen Botschaft. Ihr zufolge sind die Menschen in Schuld verstrickt und kämpfen mit ihrem am Ursprung der Menschheit selbsterzeugten Leid, ohne sich aus eigener Kraft davon befreien zu können. Sie brauchen einen Messias, der ihre Sünden sühnt, einen Erlöser, der ihnen hilft. Gott sendet seinen Sohn Jesus in die Welt, der stellvertretend die Leiden der Menschen auf sich nimmt und den Menschen durch seinen Kreuzestod erlöst. Das Kreuz, das hing noch in meiner Schulzeit in der Mitte des letzten Jahrhunderts in allen Schulstuben und war selbstverständlicher Bestandteil der Wohnkultur und Symbol der Erlösung.

Mit der Erlösungsvorstellung verknüpft waren im Kinderkopf auch angstmachende Implikate. Die Eschatologie, wie sie im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, aufgeschlagen wird, offenbart eine furchterregende letzte Zeit. Mit der Verfinsterung der Sonne und dem Untergang der Welt, mit sieben Siegeln und sieben Plagen und einem zum letzten Kampf im blutroten Gewand heranschreitenden Christkönig, der richtet und die Menschen errettet oder verwirft. Dieses alles Bisherige korrigierende und rächende Finale und das Schicksal der Menschen in ihm ist unverfügbar, endgültig, unbedingt, ohne Rekursmöglichkeit. Die Weltgeschichte spitzt sich auf diesen Moment hin zu. Sie bäumt sich gewissermaßen ein letztes Mal auf, entlässt die auferstehenden Menschen aus ihren Gräbern und unterwirft sie dem Richtspruch Gottes. Die Seele geht nach dem Einzelgericht ein in den Himmel, in die Hölle oder ins Fegefeuer, wo sie nach der Abrechnung ihres Lebens die endzeitliche Auferstehung erwartet. Eine Szene, die im Beichtstuhl gleichsam geübt worden ist mit der Aufzählung der Sünden, mit der Bitte um Vergebung und dem Empfang der Buße.

Kehrt Christus als Erlöser mit seiner Heilsbotschaft wieder? Das ist doch die Frage, die gestellt werden muss. Oder ist die heilsgeschichtliche Substanz des Christentums dem modernen Menschen fremd geworden? Stirbt sie aus mit den älter werdenden und von der Bühne des Lebens abtretenden Kirchgängern? Kein Geringerer als Joseph Ratzinger hat vor Jahrzehnten schon kritisch gefragt, ob Erlösung mehr als eine Phrase sei, wenn es selbst den Gläubigen schwerfalle, dahinter noch eine Wirklichkeit zu entdecken. Der Heilsglaube lässt sich schwer wiederbeleben. Die Erlösungsvorstellung ist so stumpf geworden, dass die Religionsforscher sich schwertun, Fragen dazu zu formulieren. Vieles gäbe es übrigens zur Erlösungsvorstellung zu sagen. Auch Gutes. Ein Gelassenwerden in einer Welt, der die Erlösungsvorstellung wie der Stachel im Fleisch gezogen ist! Der Mensch in seiner auf Gnade angewiesenen Ohnmächtigkeit! Und die dennoch gegenüber jeder tragischen Weltauffassung bleibende Hoffnung auf Erlösung.

III.


In der modernen Welt lebt die christliche Heilsbotschaft in verweltlichter Form weiter. Wie immer die vom Apostel Johannes niedergeschriebene Offenbarung, das letzte Buch der Bibel, heute gedeutet wird, sie prägt die säkularisierte Moderne zutiefst. Aus Theologie wird Teleologie, und die Zukunft besetzt jenen Platz, der im christlichen Glauben dem Himmel vorbehalten war. Der moderne Vervollkommnungs- und Perfektionierungswahn, überhaupt die Fortschrittsvorstellung, zehrt vom Ferment einer christlichen Heilsgeschichte. Der westliche Progressismus, dessen Verkündigungsengel Markt und Demokratie sind, ist die strenge Fortführung des heilsgeschichtlichen Programms auf Erden. Die ungeheuren Energien, die in den letzten Jahrhunderten im westlichen Kulturkreis freigesetzt wurden, und das gewaltige, aber auch angstmachende Schauspiel der westlichen Zivilisation sind Resultat eines christlich geprägten Futurismus. Mit dem Unterschied allerdings, dass nun ein Jenseits im Diesseits in Aussicht genommen und die Menschen im Zeichen der in der Aufklärung gewonnenen Autonomie ihre Erlösung selber bewerkstelligen müssen. Jeder hat sein eigener Heiland zu sein. Der Mensch nimmt, wie Robert Musil den »Mann ohne Eigenschaften« zeichnet, den Ausbau seiner Persönlichkeit selber in die Hand. Wer in den Himmel will, will lebendigen Leibes in den Himmel. Alles Unverfügbare, das die Weltreligionen bearbeiten, will verfügbar gemacht werden.

Die Vorstellung eines Endes der Geschichte, eines Welt-Finales und die Hoffnung auf eine künftige irdische Weltgemeinschaft, in der alle ein Herz und eine Seele sind, ist nicht erloschen. Die Weltorganisationen legen Zeugnis davon ab. Die Welt will verbessert werden. Der Mensch nimmt sich selber in Angriff, will sich vervollkommnen, selbst erlösen und letztendlich den Tod überwinden. Er strebt eine irdische, ewige Seligkeit an. Die weltliche Unsterblichkeitshoffnung wird medizinisch genährt und spekulativ befeuert. Schon werden die ersten Toten eingefroren und für ein künftiges ewiges Leben auf dieser Welt vorbereitet. In der weltlich werdenden Heilsvorstellung erkennt man aber deren grausame Züge. Die erdrückende Überforderung der Menschen, den Perfektionierungswahn, die Zurichtungsprogramme, die genetischen Träume, den Transhumanismus. Die Fluchten in toxische und andere Selbsterregungspraktiken. Die gewaltsamen und kriegerischen Praktiken, die eigne Freiheit um jeden Preis durchzusetzen …

Die ins Weltliche abgesunkene Heilsvorstellung ist desavouiert durch die politischen Erweckungsbewegungen. In ihnen pervertiert die Erlösung zur Endlösung. »Die Leute glauben nicht mehr an Prinzipien, werden aber periodisch an Erlöser glauben«, so Jakob Burckhardt lange vor dem Nationalsozialismus, der die christliche Symbolik und Terminologie für seine Weltmachtsträume einsetzte. Weltliche Heilsbewegungen haben mit dem Ziel der Erlösung vor Augen im letzten Jahrhundert die Hölle auf Erden bereitet. Sie ersetzten Erlösung durch Endlösung. Wieder und wieder treten weltliche Messiasse auf, die das Blaue vom Himmel versprechen. Während die weltliche Heilsbotschaft der Geschichte noch Richtung und Ziel verleiht, ist die christliche Heilsbotschaft, wie sie sich verdichtet im Vater Unser und im Glaubensbekenntnis findet, erkaltet. Sie ruht tief in den Heiligen Büchern.

An ihrer Stelle breiten sich diesseitige Spiritualitäten aus. Insofern erleben wir eine Redivinisierung, eine Wiederverzauberung und Vergöttlichung von Welt und Natur. Religiosität kehrt nicht wieder als christliche Heilsbotschaft von Tod und Auferstehung, sondern als religiöse Travestie, als Wellness für die dem Christentum verlorengegangene Seele. Die Titel in den Buchhandlungen, die unter Esoterik und Lebenshilfe firmieren, demonstrieren das ganze Spektrum und umfassen die alternative Heilkunde gleichermaßen wie den achtfachen Pfad im Buddhismus.

IV.


Zweifellos befördert auch das Nachlassen der körperlichen Kräfte das Hervortreten einer wie immer gearteten Spiritualität. Nie gab es eine Zeit, so weit wir in die Geschichte zurückschauen, in der so viele Menschen so gut alt werden konnten. Innerhalb eines Jahrhunderts hat sich die Lebenserwartung mehr als verdoppelt und sind fast dreißig Jahre an Lebenszeit zugewonnen worden. Mehr als in den zehntausend Jahren...

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